Chuzpe
großen Räterepublik.“
„Tja, so weit denken sie halt nicht, unsere Bürgerlichen“, replizierte Kisch und grinste breit.
Bronstein war auf das Höchste irritiert. Was täte er ohne sein Österreich? Daran wollte er gar nicht erst denken. „Weißt was, Egonek, das muss ich erst einmal verdauen. Grüß dich, wir sehen uns ein andermal. Ich brauch jetzt dringend frische Luft.“
Er nickte seinem Freund zu und verließ überstürzt das Lokal. David Bronstein, Major der Wiener Polizei. Wie lange würde er das noch von sich behaupten können? Wenn sogar schon die Bayern …! Kein Zweifel, genau so mochte es vor einem Jahr in Russland zugegangen sein. Jelka konnte sich freuen. Sie stand tatsächlich am Vorabend einer österreichischen Revolution. Und er, Bronstein, war offenbar mittendrin.
Er blickte wieder auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Wenn er jetzt sofort in den zweiten Bezirk ging, kam er wahrscheinlich um einiges zu früh. Aber er musste losmarschieren, um einen freien Kopf zu bekommen.
Die Kälte setzte wieder mit voller Härte ein, und Bronstein beschleunigte seine Schritte. Er würde zu früh im Lokal eintreffen, aber das war immer noch besser, als unterwegs zu erfrieren.
Wie schon tags zuvor war es am Kanal besonders kalt. Völlig durchgefroren gelangte Bronstein am Karmeliterplatz an. Eilig betrat er das Lokal und bestellte erst einmal Tee mit Rum, um sich aufzuwärmen. Wie nicht anders zu erwarten, war Jelka noch nicht da, doch bis acht Uhr waren es auch noch gut zwanzig Minuten. Bronstein zündete sich eine weitere Zigarette an und bedauerte, keinen Lesestoff bei sich zu führen. Den hätte er jetzt gut gebrauchen können. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den Gesprächen an den anderen Tischen zu lauschen. Linker Hand stritt sich ein Pärchen über einen vermeintlichen Fehltritt des Mannes, rechts von ihm diskutierte man über das Ende der Monarchie, und vorne an der Theke machten sich zwei Männer Gedanken über Fußball. Bronstein hätte sich gern an einer der Debatten beteiligt, denn das hätte seine Nervosität ein wenig gezügelt, aber er wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als existierte noch eine andere Welt als die, welche er Jelka nennen durfte.
Bronstein hatte kaum die zweite Zigarette angezündet, als die Tür aufging und Jelka das Lokal betrat. Das Schwarz ihres langen Militärmantels kontrastierte mit dem knalligen Rot ihrer Haare. Bronstein fuhr sich instinktiv durch die Frisur und richtete mit der anderen Hand seinen Krawattenknopf. Jelka erblickte ihn und schickte ihm schon aus der Distanz ein strahlendes Lächeln. Er erhob sich, und als sie am Tisch angekommen war, umarmte sie ihn wie selbstverständlich: „Grüß dich, Kieberer“, sagte sie neckend. Dann legte sie den Mantel ab, was Bronstein Gelegenheit bot, ihre übrige Kleidung zu inspizieren. Jelka trug schwere Bergschuhe, an die sich Gamaschen anschlossen, die sie um ihre Unterschenkel gewickelt hatte. Zu Bronsteins Überraschung hatte sie schwarze Lederhosen an, in denen ein weißes Hemd steckte, über das sie einen Wollpullover gezogen hatte, der ebenfalls aus Heeresbeständen zu stammen schien. Komplettiert wurde das Ensemble durch eineLederjacke, wie Bronstein sie in Galizien stets bei den Fliegern der Luftwaffe angetroffen hatte. Alles in allem wirkte Jelka reichlich martialisch, allein ihre üppige Oberweite konterkarierte den soldatischen Eindruck. Sie bestellte Schnaps und setzte sich Bronstein gegenüber. Wie selbstverständlich entnahm sie seinem Etui eine Zigarette, zündete ein Streichholz an und steckte selbige damit in Brand. Gierig saugte sie den Rauch ein, blies ihn sodann wieder aus und sah schließlich Bronstein direkt in die Augen.
„Und, heute irgendwelche Verbrecher dingfest gemacht?“
„Nein“, antwortete er lachend, „ihr lauft alle noch frei herum.“
„Der Kaiser auch“, hielt Jelka dem entgegen, „aber nicht mehr lange.“
„Ja“, wurde Bronstein ernst, „ich hab’s grad gelesen. In Deutschland hat der Scheidemann die Republik ausgerufen.“
„Der Scheidemann“, schnaubte Jelka, „der Karl hat sie ausgerufen. Die wahre Republik nämlich. Die sozialistische Republik des werktätigen Volkes.“
Bronstein verstand nicht: „Und der Karl ist jetzt wer?“
„Der Liebknecht. Karl Liebknecht. Der Sohn vom alten Wilhelm, der gemeinsam mit August Bebel die SPD begründet hat. Der Scheidemann ist doch nur so ein revisionistischer Hanswurst. Den kannst du getrost
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