CIA: Die ganze Geschichte (German Edition)
S.258. Was ging in Moskau tatsächlich vor? Casey wollte Informationen liefern über die Akteure im Politbüro, über das sowjetische Volk, über die Minoritäten und Dissidenten in der Sowjetunion, über das Alltagsleben im Reich des Bösen. Aber wenn die CIA auf dem Spionageweg nicht genug beschaffen konnte, hielt er sich an seine Vorurteile. Botschafter Warren Zimmerman war von 1981 bis 1984 stellvertretender Missionschef in der Botschaft in Moskau, und in diesen vier Jahren warfen Casey und die CIA seine ungeschminkten Berichte über ein im Zusammenbruch begriffenes sowjetisches Imperium in den Papierkorb. Als er in Moskau eintraf, war Breschnew, wie sich Zimmerman erinnerte, »schon senil; er nuschelte, döste vor sich hin, war betrunken«. Als Breschnew starb, wurde das Land für kurze Zeit von Juri Andropow geführt, dem Chef des sowjetischen Nachrichtendienstes, der ebenfalls starb, und dann von Konstantin Tschernenko, einem weiteren Politiker an der Schwelle des Todes. Das Politbüro, die entscheidende Instanz in Moskau, bildete laut Zimmerman einen »absolut unbeweglichen und unfähigen politischen Apparat«, den eine »Horde Siebzig- und Achtzigjähriger« führte, »von denen einige sich noch nie außerhalb der Sowjetunion aufgehalten hatten«. »Ihre Vorstellung von den Vereinigten Staaten war ein einziges Klischee und gründete auf dem, was sie in ihren schrecklichen Zeitungen und Zeitschriften lasen.« Sie hatten »nur die rudimentärste Kenntnis der Vereinigten Staaten und kaum einen Begriff von den dortigen Verhältnissen«. Mit dem amerikanischen Bild von der Sowjetunion stand es nicht viel besser. Altersschwache Generäle und korrupte Apparatschiks der alten kommunistischen Partei schleppten sich durch ihren Lebensabend, die sowjetische Wirtschaft brach unter der Anstrengung zusammen, ein Spitzenmilitärsystem tragen zu müssen, die Ernten verrotteten auf den Feldern, weil das Benzin für die Lastwagen fehlte, um die Lebensmittel von den landwirtschaftlichen Betrieben auf die Märkte zu schaffen – und kaum eine von diesen Tatsachen fand Eingang in das kollektive Bewusstsein der CIA. Und die Agency schaffte es auch nicht, das Gleichgewicht des Schreckens korrekt zu berechnen. Jede nachrichtendienstliche Lageeinschätzung hinsichtlich der Stärke der strategischen Streitmacht der Sowjetunion, die zwischen 1974 und 1986 dem Weißen Haus zugestellt wurde, überschätzte das Tempo, in dem Moskau seine nukleare Schlagkraft modernisierte.
Ihren Höhepunkt erreichte die unsichtbare atomare Krise der Jahre 1982 und 1983 in Reagans Erklärung, die Vereinigten Staaten würden ein Raketenverteidigungssystem – »Star Wars« – errichten, das sowjetische Atomwaffen im Anflug vernichten könne. Über die Technik, die sich Reagan vorstellte, verfügte Amerika nicht – und tut das auch fünfundzwanzig Jahre später noch nicht. Ihre Initiative in Sachen strategische Abwehr stützte die Regierung Reagan durch eine strikte Propagandakampagne, um die Sowjets davon zu überzeugen, dass der »Krieg der Sterne« wissenschaftlich fundiert war, und um der weltweiten Kritik an dem visionären Plan entgegenzuwirken. Der auf Informationsebene ausgetragene Krieg jagte den Sowjets Schauer über den Rücken. »Sie waren echt verängstigt«, erklärte Zimmerman. »Sie nahmen verrückterweise an, wir seien imstande, es zu bauen. Wie sich später herausstellte, täuschten wir unsere Tests vor, und sie glaubten an deren Wirklichkeit.« Die Sowjets ihrerseits täuschten Stärke vor – in Form von politischen Lügen, die dem Volk erzählt wurden, in öffentlichen Erklärungen des Politbüros –, und die CIA wiederum glaubte an deren Wirklichkeit. Zimmerman, Zeitzeugenbericht, FAOH.
In ihrer Haltung hinsichtlich der sowjetischen Ausrüstung mit Atomwaffen und Atomwaffenforschung wurde die CIA damals durch eine Operation bestärkt, die Jim Olson, der spätere Gegenspionagechef der Organisation, leitete. Wie sich Olson erinnerte, beobachteten unter der Regierung Carter die neuen Kameraaufklärungssatelliten des Programms »Key hole«, wie die Sowjets entlang einer Autobahn außerhalb von Moskau einen Graben aushoben und Telekommunikationskabel verlegten. Der Graben führte zu einem außerhalb von Moskau gelegenen Forschungs- und Entwicklungszentrum für Nuklearwaffen. Den Verlauf des Grabens markierten abgedeckte Einsteigeschächte. Nach sorgfältigem Training an einem nachgebauten Schacht flog Olson nach Moskau, schüttelte
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