Circulus Finalis - Der letzte Kreis
wurde es dunkel. Stromausfall. Unwillkürlich sträubten sich mir die Nackenhaare. Man glaubt, der moderne Mensch stehe der Dunkelheit nüchtern gegenüber, aber schon ein Nachtspaziergang allein durch einen einsamen, vom Mondlicht durchdrungenen Wald reicht aus zum Beweis des Gegenteils. Niemand bewegte sich. Lambertus fluchte. „Im Büro nebenan ist zumindest eine Taschenlampe.“ Eine andere Stimme, vielleicht Wegmann, zischte: „Er soll weiter sprechen. Licht brauchen wir im Moment keins.“ Also fuhr ich fort.
„ Eines noch zum Abschluss. Da wir hier schon über diese Dinge sprechen. Wenn man Sarazul glaubt, dann sagt der Sterbende immer die Wahrheit. Worüber er allerdings spricht, das können wir nicht beeinflussen. Es gibt jedoch ein Geheimnis, eine seit fast einem Jahrtausend gehütete Formel, vielleicht Worte oder etwas Stoffliches – wird es zur Anwendung gebracht, dann antwortet der Sterbende auf jede Frage, die wir ihm stellen. Nicht nur über die Gegenwart, auch über Vergangenheit und Zukunft. So heißt es in einem alten lateinischen Text, der auf den Arzt zurückgeht. Aber der Text ist nicht vollständig, und die Formel ist verborgen, oder vielleicht überhaupt verloren. Vermutlich hat man sie ihrer großen Macht wegen, die gleichzeitig auch Gefahr bedeutet, verschlüsselt und versteckt. Sarazul warnt eindringlich davor, dieses Wissen zu missbrauchen, aus Habgier oder für profane Zwecke.“ Im Dunkel des Raumes gestattete ich mir ein Grinsen bei dem Gedanken daran, ob Tann, unser blaulichtbegeisterter Retter, eine kleine Nachfrage nach den Lottozahlen der nächsten Woche wohl als profanen Zweck einstufen würde.
Drei oder vier Minuten später brannte das Licht wieder. Es waren die gleichen Reaktionen zu beobachten wie nach dem Ende eines Kinofilms: Dehnen und Strecken, Räuspern, Schnäuzen, ein Kugelschreiber fiel zu Boden, verhaltenes, kurzes Gelächter von links. Ob sie geneigt waren, der Sache glauben zu schenken, das wusste ich nicht, aber sie hatten auf alle Fälle zugehört.
Metz sprang abrupt auf und rief, fü r mich völlig überraschend und mit veränderter Stimme: „Und zum Abschluss noch etwas in eigener Sache: Ich werde Vater!“ Damit löste sich der Zauber, oder vielleicht war es auch nur eine Starre, es gab einen akustischen Wirrwarr aus Glückwünschen, so als sei das Kind schon geboren. Metz verschwand für Sekunden und holte von draußen einen Karton mit Bierdosen. Es gab die offensichtlichen Trinksprüche, Blech scheuerte an Blech, eine merkwürdige Aufbruchstimmung herrschte im Raum, die mit dieser Bekanntmachung eigentlich kaum zu erklären war.
Metz davon ü berzeugt, dass das Ungeborene ein Junge sein müsse, obwohl es für eine solche Gewissheit offenkundig noch viel zu früh war. Merkwürdig, dachte ich nur, ein Sohn trägt für den Vater ein viel größeres Potenzial der Enttäuschung in sich als eine Tochter, und plötzlich fühlte ich mich sehr müde. Ich trank hastig und wie unter Zwang ein zweites Bier, eigentlich wollte ich schnell nach Hause. Die Stimmung war gekippt, vielleicht erforderte die Offenbarung des vermeintlich Tiefgründigen ein Gegengewicht. Doch unvermittelt kam mir der Gedanke, dass der Abend so nicht enden sollte. Ich war wieder hellwach. Ich würde die Enthüllung der ersten Botschaft vorziehen.
Wenn es denn gelä nge: Von Siad hatte ich nur eine Anweisung erhalten. Inzwischen hatte sich der Raum geleert, auch Lambertus war gegangen, nur Metz und Wegmann waren zurückgeblieben. Metz sah zu mir hin, als wartete er auf etwas, Wegmanns Augen flackerten.
„ Ich habe den Hinweis, um den du mich gebeten hast“, sagte ich. „Es ist so –“
Wir gingen in den Wachraum. Zwei dicke Kerzen standen hier und erinnerten an die vergangene Adventszeit. Metz zog ein Feuerzeug aus der Tasche und entzündete eine davon. Dann nahm er das Kreuz von der Wand, dass ich nicht viel mehr als eine Stunde zuvor aufgehängt hatte, und gemäß meiner – Siads – Anweisung hielt er es in die Flamme.
Ich fand das groß artig, es erinnerte mich an eine Schatzsuche, an den Aufbruch zu einer Reise, die im Winter begonnen werden musste und erst im Winter enden würde. Dann das Kreuz, dieses umgedeutete Folterwerkzeug, ein Symbol für die Beliebigkeit von Symbolen.
Es dauerte eine Weile. Im Kerzenschein sah ich Skepsis auf Metz ’ Zügen. Langsam bewegte er das Kreuz über der Flamme, und Schatten tanzten über die Holztäfelung des Raumes. Dann mit einem Mal ein
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