Circulus Finalis - Der letzte Kreis

blendend weißer Blitz, begleitet von einem scharfen, reißenden Geräusch. Unwillkürlich schloss ich die Augen, helle Flecken und die Konturen des Kreuzes auch danach noch in Fehlfarben auf meiner Netzhaut.
    Als wir uns von unserer Ü berraschung erholt und die Augen sich wieder an das unruhig flackernde Licht der Kerze gewöhnt hatten, blickten wir wieder auf das Kreuz, das unverändert aussah und ein wenig zitterte in Metz’ Hand. Er drehte es um.
    Vom glatten Metall der Rü ckseite stieg heller Rauch auf, aber nicht gleichmäßig: Rückstände eines weißlichen Pulvers bildeten eine zusammenhängende, geschwungene Kontur. Vorsichtig legte Metz das Kreuz auf den Tisch. Es waren lateinische Buchstaben, kein Zweifel, hier und dort verwischt, aber in Ansätzen bereits lesbar. Das Pulver ruhte bei genauer Betrachtung in einer leichten Vertiefung. Vorsichtig wischte Metz mit einem Tuch über die noch heiße Oberfläche, bis die Buchstaben deutlicher hervortraten.
    Im Grunde tat ich mir leicht in meiner Rolle: Weder den Schreck angesichts der Magnesiumflamme musste ich vortä uschen, noch die Neugier auf das, was zum Vorschein kam. Oder die Überraschung und Enttäuschung, dass es ein blindes Gewirr von Buchstaben war, verschlüsselt, falls überhaupt bedeutsam. Metz schrieb die Zeichen sorgfältig ab und hängte das Kreuz wieder auf. Wir trennten uns. Nur kurz empfand ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen dabei, ihm die Hand zu geben, während ich unter dem linken Arm die Tasche mit dem echten Kreuz trug.

18
    Im Rückblick sympathisieren wir mit Künstlern, Philosophen und Herrschern, aus denen auch in den dunkelsten Zeiten voller Irrlehren, Unterdrückung und Leid noch die Stimme der Vernunft sprach, und doch hängen wir selbst Aberglauben und Selbsttäuschung an, wo es bequem oder einfach nur unterhaltsam ist. Als die Wissenschaft etwa die Funkwellen entdeckte, fiel das Monopol der Zauberer und Priester auf Fernwirkungen und unsichtbare Kräfte. Der Nichtwissenschaftler aber blieb nur umso stärker verunsichert zurück: Jetzt war das einstmals Übernatürliche alltäglich geworden, und vielleicht konnte dann ja letztendlich alles real sein, was übernatürlichen Ursprungs schien.

    Auch wenn der Strom am Abend der Versammlung überall in der Region und für nicht mehr als eine knappe Viertelstunde ausgefallen war, änderte das nichts an dem unterschwelligen Empfinden, dass es sich bei der plötzlichen Dunkelheit um kein zufälliges Ereignis handelte. Dass es einen Zusammenhang gab, ein Geschehen, in das wir eingebunden waren, in dessen Zentrum wir uns vielleicht sogar befanden. Selbst bei mir blieb wider jeder Vernunft und trotz meines Wissensvorsprungs ein derartiges Gefühl zurück, und ich überlegte, wie ich das nutzen konnte, ohne das abgegriffene Wort Zeichen zu verwenden. Da mir aber nichts Brauchbares einfiel, sagte ich anderntags am Telefon zu Metz nur, dass manche Dinge besser im Dunkel ausgesprochen würden. Ich spürte förmlich, wie der Strudel seiner Ahnungen sich erneut zu drehen begann, und war zufrieden.
    Nicht, dass er nicht bereits genü gend Stoff zum Nachdenken gehabt hätte, angesichts der Botschaft auf dem Kreuz.
    „ Wusstest du schon vorher davon?“
    „ Nicht direkt“, antwortete ich, und es bereitete mir Vergnügen, so nah an der Wahrheit bleiben zu können. „Ich habe so etwas wie einen Verbindungsmann kontaktiert. Und der hat nur gesagt, das Kreuz müsse ins Feuer.“
    Metz schwieg fü r einen Moment, und es war offensichtlich, dass er gerne weiter nachgeforscht hätte. Dann wandte er sich den wichtigeren Fragen zu.
    „ Wie du weißt, ist der Text kurz. Ich habe mir alles genau angesehen, aber leider verstehe ich nichts. Ein reines Buchstabengewirr ohne Leerzeichen, ein Geheimalphabet. Außerdem wahrscheinlich nicht Deutsch, vielleicht Latein. Jedenfalls fehlen die Buchstaben, die es im Lateinischen nicht gibt – J, K, W, Y, und Z. Hab es schon mit dem Wörterbuch probiert, aber weit bin ich nicht gekommen. Und jede Silbe kann von Bedeutung sein. Wie sieht es bei dir aus mit dem Latein?“
    Wahrheitsgemäß berichtete ich von meinen schwachen Kenntnissen. Ich ärgerte mich, dass Siad, der seine Diplomarbeit über Verschlüsselungsmethoden in der Datenverarbeitung geschrieben hatte, ein studierter Kryptograph sozusagen, es so kompliziert machte. Er hatte eine Zeitlang ein Foto von Arthur Diffie an seiner Pinnwand hängen gehabt, einem der Väter der modernen, auf dem Produkt