Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Metz hö rte mich gar nicht. Wieder und wieder betrachtete er die Karte, und es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass er sich den Verlauf der Linie einprägte. „Falls wir ihr nicht immer folgen können.“
„ Ihr wollt jetzt noch…?“
Er sah mich an. Anska nickte langsam. „ Warum nicht?“
Fünf Minuten später hüllten uns wieder Dunkelheit und Regen ein. Der Verlauf der Straßen zwang zu Umwegen, aber nach einem kurzen Stück hatten wir das Bahngelände erreicht. Ein dünner Streifen schlafender Kleingärten trennte die Straße von den Gleisen, und mit dem Kompass in der Hand, dem Kurs getreu folgend, überkletterten wir Zäune, sprangen auf den aufgeweichten Rasen, und eilten an Gartenzwergen und Zierbrunnen vorbei weiter, als ginge es um Sekunden. Metz und Anska blieben voraus, sich regelmäßig vergewissernd, ob ich auch folgte, und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, der Verfolger zu sein, und beschleunigte unwillkürlich meinen Schritt. Dann wurde mir wieder bewusst, dass es wohl eher umgekehrt war. Hätte ich eine Chance gesehen für irgendeine Verbesserung – ich wäre geflohen. So aber blieb ich bei ihnen, überprüfte unseren Kurs mit dem Kompass und hielt Ausschau nach einem Hinweis. Als ich den letzten Zaun erklomm, die mehr liebevoll als geschmackvoll gestalteten Kleingartenparzellen im Rücken, das dunkle Gewirr der Gleise voraus, da war mir, als lasse ich jetzt, in diesem Moment, etwas unwiderruflich zurück.
Vorsichtig überquerten wir die Bahnlinie. Das Ausbesserungswerk war weitläufig und nur in größeren Abständen von Lampen erhellt, die Wolkendecke war weiter herabgesunken, und der gelbliche Widerschein der Industriebeleuchtung wirkte kränklich. Von der Stadt drangen Geräusche gedämpft herüber, Reifen auf regennassem Asphalt, ein anfahrender Bus, Normalität, weit entfernt. Der grobe Schotter der Gleiskörper glänzte feucht im Licht der schwachen Beleuchtung und knirschte unter unseren Füßen, während wir zwischen Güterwaggons einen möglichst geradlinigen Weg suchten und über schmierige Kupplungen hinweg kletterten. Schwarze Streifen zeichneten die Hosenbeine meiner Jeans.
Es war ein Ort im Niedergang: Durch verschmierte Fenster blickten wir in eine Lagerhalle, in der sich Ausstattungsteile wie Innereien stapelten. Ein Transformator sang lautstark, begleitet von einer wie ein unstetes Auge flackernden Kontrollleuchte. Weg weisern gleich erschienen im Lichtkegel Graffiti und eingebrannte Buchstaben auf den Karosserien heruntergekommener S-Bahn-Wagen.
Metz und Anska gingen schnell voran. Es bestand ein stilles Einverstä ndnis, dass hier aufgrund des mangelnden Alters des Ortes kaum mit einem Hinweis zu rechnen war. Die Entfernung zwischen Mühle und alter Kirche betrug etwa vier Kilometer, jetzt hatten wir wohl nicht einmal einen zurückgelegt. Es gab also noch wahrscheinlichere Fundorte.
Doch dann prallte ich gegen Metz, der pl ötzlich stehen geblieben war, den rechten Arm Halt gebietend erhoben wie ein römischer Centurio. Fast schon hatten wir das Ende des Bahngeländes erreicht, und vor uns ragte ein aus Steinen gefügter Sockel auf, der früher vielleicht eine niedrige Brücke getragen hatte. Die raue Oberfläche war über und über mit abstraktem Graffiti bedeckt, von schwarzen Schriftzügen, Konturen wie gezackte Klingen, von Flammen und Spiralen, und irgendwo dazwischen, nicht einmal klein, aber im Lichtkegel der Lampe brauchte ich eine Weile, um es zu erkennen: Eingraviert in den grauen Stein wie das Auge eines Wirbelsturms das Zeichen des Circulus Finalis , ganz leicht verzerrt, so als Blicke es zu uns auf. Vielleicht hatte Siad so nah am Erdboden Schwierigkeiten bei der Gravur gehabt. Metz bewies einmal mehr eine gute Wahrnehmung, fast war er mir wieder unheimlich; ich wäre mit Sicherheit daran vorbeigelaufen. In der Mitte die Vertiefung und darin eine Dose gleich jener in der Kirche. Metz nahm auch diese an sich, und wir suchten Schutz vor dem Regen unter der vorspringenden Kontur eines Schüttgutwaggons. Es roch nach Metall und Rost und Schmiermittel.
Metz trocknete sich die Hä nde mit einem Taschentuch ab und öffnete vorsichtig die Dose. Darin ein Zettel von gleicher Größe wie der, den wir schon früher am Abend gefunden hatten, und ebenso wie dieser mit geometrischen Mustern übersät. Wir hielten beide Stücke nebeneinander, und jetzt wurde deutlich, wie sehr sich die Zeichnungen ähnelten; auf subtile Weise waren die Linien
Weitere Kostenlose Bücher