Circulus Finalis - Der letzte Kreis
jedoch gegeneinander verschoben. Wir starrten auf die beiden Blätter, ohne jede Vorstellung, was sie bedeuten mochten. Mir kam etwas an den Linien entfernt vertraut vor, aber das war nur ein vages Gefühl. Ernüchtert rollte Metz den Fund wieder ein. Dann machten wir uns auf die Suche nach einem weiteren Hinweis, einem Pfeil oder einer Gradzahl womöglich, aber dieses Mal wurden wir enttäuscht.
„ Vielleicht haben wir alles, was wir brauchen“, meinte Metz mit einem grimmigen Ausdruck. „Wir müssen es nur entschlüsseln.“ Und ich, ich war gleichzeitig erleichtert und frustriert, dass hier das Ende des Weges erreicht sein sollte. Das Bedürfnis wurde übermächtig, in meinen Alltag zurückzukehren wie in eine bequeme Jacke, nach nichts mehr suchen zu müssen, sich nicht verfolgt zu fühlen, keinen Zwängen zu unterliegen außer den elementaren, und vor allem, mit mir allein zu sein.
Fünfzehn Minuten später saß ich im Bus. Ich hatte befürchtet, dass es zu spät war für den öffentlichen Personennahverkehr, und im Taxi war ich für heute genug unterwegs gewesen, aber dann sah ich, dass die Zeiger meiner Uhr gerade mal auf Viertel nach Neun standen. Der Busfahrer starrte gelangweilt in den Regen, meine nassen Schuhe machten auf dem Kunststoffboden ein geschmackloses, aber irgendwie beruhigend alltägliches Geräusch, und die schwarzen Streifen an den Hosenbeinen hätten auch von einer Fahrradkette herrühren können. Die nächtliche Durchquerung der Kleingärten kam mir vor wie ein Lausbubenstreich, nichts anderes, nicht mehr. Ich sog die Normalität ein, wie einen betörenden Duft, und ich wollte nichts als nach Hause und mich verkriechen, mich verschließen allen mysteriösen Rätseln und Vereinigungen. Angekommen in meinem kleinen Heim, meiner Austernschale, meiner Insel in einem Meer regengesättigter Nachtwolken, vermisste ich zum ersten Mal einen Fernseher. Nachrichten hätte ich sehen wollen, einfach nur Nachrichten, um in der Fülle der bunten Schnipsel aus aller Welt, der Auseinandersetzungen und Katastrophen, dieser obskuren Geschichte den ihr angemessenen, untergeordneten Platz zuweisen zu können.
28
In der Nacht träumte ich von Hanna. Ich träumte davon, mit ihr sesshaft zu sein hier in der Stadt, aber es war eine andere Zeit. Zwischen den Autobahnen und Industrieanlagen gingen wir hinab zum Fluss, an dessen Ufer ein schattiger Weg durch herbstlichen Auenwald führte. Es gab kaum Wind, und doch war die Luft erfüllt von zur dunklen Erde herabsinkenden Blättern. Einander an den Händen haltend, gelegentlich und mit langen Pausen ein leises Gespräch fortführend, machten wir uns auf, um einen langen Weg zu beschreiten, der, vielleicht, zum Meer führen würde.
Irgendwann in der Nacht fand das gleichmäß ige Fallen des Regens, mit dem ich eingeschlafen war, ein Ende, der Himmel klärte sich, und als ich am frühen Vormittag aufwachte, schien die Sonne zwar noch nicht auf meine südwestseitige Fensterfront, ihr Licht allerdings zeichnete schon scharfe Schatten. Der letzte Tag ähnlich schönen Wetters lag schon so lange zurück, dass eine besondere Durchsicht und ein übersteigerter Kontrast dem Ausblick etwas Unwirkliches gab. Die Luft war von einer ungewöhnlichen Klarheit. Überhaupt schien es, als habe über Nacht eine andere Jahreszeit begonnen.
Jeder mag unterschiedliche Vorlieben haben, was das Wetter angeht, aber auch der nüchternste Mensch kann nur schwer vermeiden, dass es einen Einfluss ausübt auf Gemüt und Grundstimmung. Die Verfolgung durch Stadt und Wald, die Begegnung in der Kirche, den verregneten Abend zwischen rußigen Güterwaggons hatte es gegeben, kein Zweifel, aber die Erinnerung verlegte sie zurück in eine andere Zeit als die, die jetzt angebrochen war. Ich fühlte mich diesen Ereignissen nicht mehr verbunden, nicht mehr verantwortlich, auf angenehme Art entrückt. Ich war zurückgekehrt in meine Distanz , so als sei sie ein fester Ort, den ich nur kurzfristig und spielerisch aus Neugier verlassen hatte; zurückgekehrt dorthin, wohin ich gehörte. Ich öffnete das Fenster, presste Orangen aus. Ein leichter Ostwind verblies die Schwaden von Industrieabgasen in Richtung der fernen See. Es war ein guter Tag. Der richtige Tag für einen Friseurbesuch. Auf dem Weg zum Bus behielt ich den Duft der Früchte in der Nase, vermischt mit der von der Sonne bereits erwärmten Außenluft; viel zu früh, dem Kalender nach, aber es roch nach Frühling.
Auch in der Stadt war
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