Circus
schon mindestens hundertmal gesehen. Ein erster Eindruck kann auch einmal falsch sein, nicht wahr?«
»Das kann man wohl sagen.«
Eine halbe Stunde später stand sie mit Henry gerade vor den Artistengarderoben, als Bruno herauskam. Er trug Straßenkleidung und sah wieder so unscheinbar aus wie üblich. Als er sie sah, blieb er stehen und lächelte sie an: »Ich habe Sie in der Vorstellung gesehen.«
»Trotz Augenbinde und Kapuze?«
»Auf dem Seil. Auf dem Fahrrad.«
Sie sah ihn verblüfft an: »Bei dieser unglaublichen Nummer haben Sie auch noch Zeit, sich das Publikum anzusehen?«
»Mit irgend etwas muß sich der Mensch doch schließlich beschäftigen«, sagte er gespielt großspurig. »Hat Ihnen alles gefallen?« Sie nickte, und er lächelte wieder. »Sogar die ›Blinden Adler‹? Sie merken natürlich, daß ich nur nach Komplimenten heische.«
Maria schaute ihn ernst an, deutete nach oben und sagte: »Ein Stern ist vom Himmel gefallen.« Dann drehte sie sich um und ging davon. Bruno hob fast unmerklich die Brauen, aber es war nicht eindeutig zu erkennen, ob sich damit Verwirrung oder Belustigung ausdrückte.
Dr. Harper erschien am folgenden Morgen Schlag zehn Uhr, mußte aber eine halbe Stunde warten, bis Wrinfield alle diejenigen Anwärter auf den Posten des Circusarztes abgefertigt hatte, die sich bereits lange vor zehn Uhr eingefunden hatten.
Als Harper schließlich klopfte und eintrat, war Wrinfield allein in seinem Büro. »Guten Morgen«, sagte er, »ich bin Dr. Harper.«
Wrinfield sah ihn erstaunt an und hatte schon den Mund geöffnet, um ihm zu sagen, daß er sich durchaus an ihn erinnerte, als Harper ihm eine handgeschriebene Notiz reichte. Wrinfield nahm das Blatt und las lautlos: ›Dieses Büro ist vielleicht mit Abhörgeräten verseucht. Sprechen Sie mit mir, als sei ich ein ganz normaler Bewerber.‹
»Guten Morgen«, sagte Wrinfield. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. »Mein Name ist Wrinfield. Ich bin der Besitzer des Circus.« Und gewandt führte er die Befragung durch. Harper hörte zu, antwortete und schrieb gleichzeitig eine weitere Nachricht, die er Wrinfield ebenfalls über den Schreibtisch reichte. Sie besagte: ›Beenden Sie das Gespräch und geben Sie mir den Job. Fragen Sie mich nach den nötigen Reisevorbereitungen, und fordern Sie mich zu einem Rundgang durch den Circus auf.‹
»Nun, das wär's«, sagte Wrinfield gehorsam. »Ich bin zu beschäftigt, um die nächsten Wochen damit zu verbringen, mir Bewerber anzusehen. Der Job gehört Ihnen. Wenn ich die Wahl zwischen einem erfahrenen Klinikarzt und einem jungen Assistenten habe, dann fällt sie mir offengestanden nicht schwer. Ich bin allerdings nicht so naiv, anzunehmen, daß Sie Ihr Leben als Circusarzt beschließen wollen. Ist das Ihr Urlaubsjahr – oder ein Teil davon?«
»Ja. Schwer verdient. Zwölf Jahre am ›Belvedere‹ sind eine lange Zeit.«
»Wie schnell können Sie aus der Klinik freikommen, Doktor?«
»Sofort.«
»Ausgezeichnet. Und welche Reisevorbereitungen müssen getroffen werden?«
»Eine Menge! Wann geht es los?«
»In vier, fünf Tagen.«
»Das ist knapp. Zunächst, Mr. Wrinfield, möchte ich eine Vollmacht von Ihnen für die Beschaffung von Medikamenten. Dann brauche ich alle Pässe, um zu sehen, bei wem welche Impfungen erforderlich sind – soviel ich weiß, ist das die erste Europatournee für Ihren Circus. Ich fürchte, einige Ihrer Hochseilartisten werden in den nächsten Tagen ihre Nummer etwas verkürzen müssen.«
»All das kann ich sofort arrangieren. Aber zuallererst schlage ich einen Rundgang durch das Gelände vor. Wenn Sie erst gesehen haben, auf was Sie sich da einlassen, überlegen Sie es sich vielleicht sogar noch anders.« Die beiden Männer verließen das Büro, und Wrinfield ging voraus bis in die Mitte der mittleren Manege, wo sie so sicher vor unerwünschten Lauschern waren, wie das in dieser Umgebung überhaupt möglich war. Nichtsdestoweniger scharrte Wrinfield mit seinem Schuh im Sand herum und blickte sich scheinbar ziellos um, bevor er zu sprechen begann.
Schließlich fragte er: »Was soll das alles?«
»Es tut mir leid, eine solche Schmierenkomödie von Ihnen verlangt zu haben. Für gewöhnlich haben wir für derlei Mätzchen nichts übrig, sie verderben unser Image. Aber ich muß Sie beglückwünschen – Sie wären eine begrüßenswerte Neuerwerbung für unsere Organisation. Auf dem Weg hierher unterhielt ich mich mit Charles, und im Verlauf des
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