Circus
der Seufzer unglaublicher Erleichterung, als Bruno das heranschwingende Trapez mit den Fersen erwischte. Nur um zu zeigen, daß es kein Zufall gewesen war, wiederholte er das halsbrecherische Kunststück noch zweimal. Die Menge wurde regelrecht hysterisch: Kinder und Teenager kreischten, Männer brüllten, Frauen weinten vor Erleichterung – das Stadion glich einem Hexenkessel. Eine derartige Publikumsreaktion war sogar für Wrinfield etwas Neues. Er brauchte drei Minuten, um mit wiederholten Aufforderungen über das Mikrophon so etwas Ähnliches wie Ordnung im Zuschauerraum herzustellen.
Sergius tupfte sich geziert mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn: »Was Sie unserem jungen Freund da oben auch zahlen, es kann immer nur ein Bruchteil dessen sein, was er wert ist.«
»Ich zahle ihm ein Vermögen und ich bin Ihrer Meinung. Haben Sie schon mal irgendwo etwas Ähnliches gesehen?«
»Niemals. Und ich weiß, daß ich auch in Zukunft nichts Ähnliches mehr sehen werde.«
»Warum?«
Sergius suchte nach einer Antwort und sagte schließlich: »Bei uns gibt es ein altes Sprichwort: ›Nur einmal im Leben hat ein Mensch die Erlaubnis, seinen Körper zu verlassen und bei den Göttern zu weilen.‹ Und heute war dieses eine Mal für mich.«
»Vielleicht haben Sie recht, ja, vielleicht haben Sie recht.«
Wie üblich benutzte Bruno im zweiten Teil seiner Nummer das niedrige Seil – wenn man sechs Meter über dem Boden als niedrig bezeichnen konnte –, das über den oben offenen Käfig lief, in dem Neubauer ›seinen Chor dirigierte‹, wie er sich auszudrücken beliebte, was bedeutete, daß er seine zwölf nubischen Löwen, die zweifellos ein ziemlich wilder Haufen waren, die niemanden außer Neubauer an sich heranlassen würden, ihre Kunststücke machen ließ.
Beim erstenmal fand Bruno den Weg über das Seil auf einem Fahrrad ohne das Gewicht seiner Brüder offensichtlich geradezu lächerlich einfach und machte lässig akrobatische Kunststücke, die ihm nur wenige Circusartisten hätten nachmachen können – und wenn, dann nur mit Mühe. Die Menge schien seine Lässigkeit zu spüren und wartete, während sie seine Geschicklichkeit, seine Waghalsigkeit und Routine bewunderte, erwartungsvoll auf eine Steigerung. Und die bekam sie.
Auf der nächsten Fahrt über den Löwenkäfig saß er auf einem anderen Fahrzeug: Bei diesem war der Sattel einen Meter zwanzig hoch, die Pedale waren unter dem Sattel angebracht und die einen Meter sechzig lange Fahrradkette verlief vertikal. Wieder fuhr er einmal hinüber und wieder zurück, wieder führte er seine akrobatischen Kunststücke vor, aber diesmal mit bedeutend mehr Vorsicht. Als er das drittemal über das Seil fuhr, war das Publikum echt besorgt, denn diesmal war der Sattel nicht weniger als zwei Meter vierzig hoch, und die vertikale Kette hatte die entsprechende Länge. Die Besorgnis des Publikums wurde deutlich spürbar, als beim Erreichen des Durchhangs in der Mitte sowohl der Mann als auch das Fahrrad – wenn man diese kühne Konstruktion überhaupt noch als ein solches bezeichnen konnte – in höchst alarmierender Weise hin und her zu schwingen begannen und Bruno sich auf die allerelementarsten akrobatischen Kunststücke beschränken mußte, um die Balance zu halten. Er schaffte es sicher hin und zurück, aber nicht ohne mehrere Adrenalinstöße, Atemschwierigkeiten und beschleunigte Pulsschläge bei der Mehrheit des Publikums hervorgerufen zu haben.
Für seine vierte und letzte Fahrt war der Sattel auf eine Höhe von drei Meter sechzig geschraubt worden, wodurch sein Kopf sich nunmehr vier Meter achtzig über dem Drahtseil und damit zehn Meter achtzig über dem Boden befand.
Sergius musterte Wrinfield von der Seite, der sich nervös mit einer Hand über den Mund fuhr, und fragte: »Hat Ihr Bruno einen Vertrag mit einem pharmazeutischen Konzern, der Beruhigungsmittel herstellt, oder mit einem Herzspezialisten?«
»Das hat noch nie jemand gewagt, Oberst! Noch kein Artist hat vor Bruno dieses Kunststück gewagt!«
Bruno begann fast sofort nach Verlassen der Plattform mit seinem seltsamen Gefährt hin und her zu schwanken, aber sein unglaublicher Gleichgewichtssinn und sein ebenso unglaubliches Reaktionsvermögen fingen die Schwankungen auf und hielten sie in erträglichen Grenzen. Aber diesmal machte er nicht einmal den Versuch, akrobatische Kunststücke auszuführen. Seine Augen, Muskeln und Nerven waren nur auf das eine Ziel konzentriert, die
Weitere Kostenlose Bücher