Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Circus

Circus

Titel: Circus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alistair MacLean
Vom Netzwerk:
Balance zu halten.
    Genau in der Mitte des Seils hörte Bruno auf zu treten. Sogar der blutigste Laie unter den Zuschauern wußte, daß das geradezu selbstmörderisch war: Wenn der Balancefaktor einen kritischen Punkt erreicht hat – und hier schien dieser Punkt bereits überschritten –, kann man nur mit Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen das Gleichgewicht wiedererlangen.
    »Nie wieder!« schwor Wrinfield. »Nie wieder!« Seine Stimme war leise und gepreßt. »Schauen Sie sie nur an. Schauen Sie sie an!«
    Sergius musterte das Publikum kurz und wußte sofort, was Wrinfield meinte: Bis zu einem gewissen Grad genießen Menschen es, wenn ihnen ein gefährliches Schauspiel geboten wird, aber wenn dieser Punkt überschritten und wie in diesem Fall noch über so lange Zeit ausgedehnt wird, dann verwandelt sich das angenehme Prickeln in nackte Angst. Die ineinander verkrampften Hände, die zusammengebissenen Zähne, die vielen niedergeschlagenen Augen und die Furcht, die jetzt die Atmosphäre in der riesigen Halle beherrschte, waren nicht dazu angetan, die Leute zu veranlassen, ein zweites Mal in den Circus zu kommen.
    Zehn schier unendliche Sekunden lang hielt die unerträgliche Spannung an, in denen sich die Räder des Fahrrades um keinen Millimeter vor oder zurück bewegten, und das Schwanken des Rades sich sichtbar verstärkte. Dann trat Bruno plötzlich kräftig in die Pedale.
    Die Kette sprang heraus.
    Später gaben nicht einmal zwei Leute den gleichen Bericht von dem, was folgte. Das Fahrrad kippte sofort nach rechts. Bruno warf sich nach vorn – es gab keine Lenkstange, die ihn hätte aufhalten können. Mit ausgestreckten Händen, um seinen Sturz zu dämpfen, landete er seitwärts auf dem Drahtseil und schlug anscheinend mit der Innenseite eines Oberschenkels und der Kehle auf, denn sein Kopf fiel beängstigend weit nach hinten. Dann glitt der Körper vom Seil herab und Bruno schien sich nur noch mit seiner rechten Hand und dem Kinn festzuklammern. Aber dann rutschte auch sein Kopf vom Seil, der Griff seiner rechten Hand lockerte sich, und er fiel in die Manege hinunter. Er landete mit den Füßen voran im Sägemehl und sank wie eine zerbrochene Puppe in sich zusammen.
    Neubauer, von dessen zwölf nubischen Löwen gerade zehn in einem Halbkreis auf Fässern saßen, reagierte blitzschnell. Sowohl Bruno als auch das Fahrrad waren mitten in seinem Käfig gelandet, weit entfernt von den Tieren – aber Löwen sind sehr sensible und nervöse Geschöpfe und reagieren unberechenbar auf unerwartete Störungen und Unterbrechungen. Und dies war wirklich eine unerwartete Störung. Die drei Löwen in der Mitte des Halbkreises hatten sich schon auf alle vier Füße erhoben, als Neubauer sich bückte und ihnen Hände voll Sand in die Gesichter warf. Sie setzten sich zwar nicht wieder hin, waren aber für kurze Zeit geblendet und blieben, wo sie waren, wobei zwei von ihnen sich mit ihren riesigen Pranken den Sand aus den Augen zu wischen versuchten. Die Käfigtür wurde geöffnet, einer von Neubauers Assistenten und ein Clown kamen langsam herein, um die Löwen nicht noch mehr zu irritieren, hoben Bruno vorsichtig hoch, trugen ihn aus der Gefahrenzone und machten die Käfigtür wieder zu.
    Harper war augenblicklich bei ihm. Er kniete neben ihm nieder, untersuchte ihn kurz, erhob sich wieder und machte mit der Hand ein Zeichen, das sich als überflüssig erwies: Kan Dahn war schon mit einer Bahre zur Stelle.
    Drei Minuten später wurde über das Mikrophon verkündet, daß der berühmte ›Blinde Adler‹ sich nur ein paar Prellungen zugezogen habe und mit etwas Glück am nächsten Abend wieder auf dem Seil sein würde. Die Menge erhob sich wie ein Mann und klatschte eine geschlagene Minute. Die Show ging weiter.
    Die Atmosphäre im Sanitätsraum war entschieden weniger fröhlich, eher wie bei einer Beerdigung. Anwesend waren Harper, Wrinfield, zwei seiner stellvertretenden Direktoren, Sergius und ein eindrucksvoller etwa siebzigjähriger Herr mit einer weißen Mähne und einem weißen Schnauzbart. Er und Harper gingen gemeinsam ans Ende des Raumes, wo Bruno – immer noch auf der Bahre – auf einem Holztisch lag. »Falls Sie selbst eine Untersuchung vornehmen wollen, Dr. Hachid …«, begann Dr. Harper, aber Dr. Hachid winkte mit einem traurigen Lächeln ab: »Ich glaube kaum, daß das nötig sein wird.« Er wandte sich an einen der stellvertretenden Direktoren namens Armstrong: »Haben Sie schon einmal einen Toten

Weitere Kostenlose Bücher