Circus
Stadt. Die Dämmerung brach herein. Um den Weg abzukürzen, ging er durch einen großen Park, von dem ein Teil als Friedhof abgeteilt worden war. Als er an einem offenen Eisentor vorbeikam, das in die hohe Mauer eingelassen war, die den Friedhof umgab, sah er zwei Männer, die im Licht von zwei Sturmlaternen eifrig damit beschäftigt waren, ein Loch zu graben. Neugierig ging er auf die beiden zu. Als er bei ihnen angekommen war, richteten sich die beiden Männer, die in einem vorläufig noch seichten Grab standen, auf und rieben sich ihre offensichtlich schmerzenden Rücken.
»Ihr arbeitet aber noch spät, Genossen«, sagte Bruno voller Mitgefühl.
»Die Toten scheren sich nicht darum, wann wir arbeiten müssen«, sagte der ältere der beiden mit Grabesstimme und fügte dann nach einem zweiten Blick auf Bruno hinzu: »Manche müssen sich ihren Lebensunterhalt eben verdienen. Würde es Ihnen was ausmachen, sich auf die andere Seite des Grabes zu stellen?«
Bruno erkannte, daß der leichte Wind seinen Geruch genau zu den beiden Männern trug. Er ging gehorsam auf die andere Seite hinüber und fragte: »Und wessen letzte Ruhestätte soll das werden?«
»Er ist ein berühmter Amerikaner. Aber geboren und aufgewachsen ist er hier bei uns. Ich kannte seinen Großvater gut. Wildermann heißt er. Er trat in einem Circus im ›Winterpalast‹ auf. Er ist durch einen Unfall gestorben. Montag wird für uns hier ein großer Tag – Johann und ich werden unsere Sonntagsanzüge anziehen.«
»Durch einen Unfall?« Bruno schüttelte den Kopf. »Ich wette, das war wieder einer von diesen verdammten Bussen.«
Der Jüngere der beiden widersprach: »Nein, Sie Dummkopf. Er fiel im Circus vom Drahtseil und brach sich das Genick.« Er rammte seine Schaufel in den sandigen Boden: »Würden Sie uns jetzt bitte zufriedenlassen, wir müssen nämlich arbeiten.«
Bruno murmelte eine Entschuldigung und schlurfte davon. Fünf Minuten später war er im ›Jagdhorn‹, wo er dem naserümpfenden Kellner erst sein Geld zeigen mußte, bevor er einen Kaffee bekam. Nach etwa fünfzehn Minuten erschien Maria in der Tür, sah sich kurz um, erkannte ihn offenbar nicht, zögerte einen Augenblick und verschwand wieder. Bruno stand auf und schlenderte zur Tür. Obwohl er nicht schnell ging, hatte er Maria eingeholt, blieb jedoch hinter ihr.
»Wo ist der Wagen?« fragte er.
Sie fuhr herum. »Wo um Himmels willen … du warst nicht … doch, du warst!«
»Es wird dir gleich wieder besser gehen. Wo ist der Wagen?«
»Hinter der nächsten Ecke.«
»Ist dir jemand gefolgt?«
»Nein.«
Der Wagen entpuppte sich als unauffälliger, verbeulter VW, von denen es Hunderte in der Stadt gab. Er war unter einer Straßenlaterne abgestellt worden. Bruno glitt hinters Steuer, und Maria setzte sich neben ihn. Sie schnüffelte angewidert.
»Wo kommt dieser entsetzliche Gestank bloß her?«
»Von mir.«
»Das dachte ich mir schon. Aber …«
»Es ist nur ein Desinfektionsmittel. Ein sehr starkes, aber trotzdem nur ein Desinfektionsmittel. Du wirst dich daran gewöhnen. Es ist ganz erfrischend, wirklich.«
»Es ist abscheulich! Warum um alles in der Welt …«
»Verkleidung«, erklärte Bruno geduldig. »Oder glaubst du vielleicht, daß dies die von mir bevorzugte Moderichtung ist? Ich glaube nämlich, daß unser guter Doktor den Oberst unterschätzt. Ich mag ja Jon Neuhaus, gutsituierter Bürger eines befreundeten Landes sein, aber ich bin immer noch Ostdeutscher. Ich bin ein Außenseiter – und du kannst Gift darauf nehmen, daß Sergius jeden Außenseiter katalogisiert, sobald er sich Crau auf zwanzig Meilen genähert hat. Er kann – wenn er will – bereits nach zehn Minuten wissen, welcher Fremde neu in welchem Hotel in Crau abgestiegen ist. Er hat bestimmt eine komplette Beschreibung von Jon Neuhaus. Ich bin tot, also wird er an mich keinen Gedanken verschwenden. Aber er wird sich Gedanken machen, wenn ein respektabler Geschäftsmann einer größeren Firma in einer Kaschemme wie dem ›Jagdhorn‹ auftaucht oder mit seinem Wagen endlos lange im Schatten der ›Lubylan‹ parkt, meinst du nicht auch?«
»Du hast recht. In diesem Fall gibt es nur eines zu tun.« Sie öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr einen kleinen Parfümzerstäuber, besprühte sich von oben bis unten und schüttete dann den Rest der Flasche über Bruno. Als sie fertig war, zog Bruno prüfend die Luft ein.
»Das Desinfektionsmittel gewinnt den Kampf«, verkündete er, und
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