City of Lost Souls
– als wären sie mit Blei gefüllt.
Sie hörte ihn, als er näher kam, und drehte sich um. Ihr blasses Gesicht wurde noch bleicher, während er sich neben ihr niederließ. »Simon«, stieß sie leise hervor. »Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest.«
»Hi, Rebecca«, sagte er.
Rebecca streckte ihre Hand aus und Simon ergriff sie – Gott sei Dank war er so schlau gewesen, Handschuhe anzuziehen, damit seine Schwester die eisige Kälte seiner Haut nicht sofort spüren konnte. Seit ihrem letzten Treffen waren gerade einmal vier Monate vergangen, doch sie wirkte auf ihn bereits wie die Fotografie eines Menschen, den er einmal vor langer Zeit gekannt hatte. Andererseits erschien ihm alles an ihr noch sehr vertraut: die dunklen Haare; die braunen Augen, genau wie seine eigenen; die Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie trug Jeans, einen leuchtend gelben Parka und einen grünen Schal mit dicken gelben Blüten. Clary hatte Beckys Stil immer als »Hippie-Schick« bezeichnet – die Hälfte ihrer Kleidungsstücke stammte aus Secondhand-Läden, die andere Hälfte hatte sie selbst genäht.
Als Simon ihre Hand drückte, schossen ihr Tränen in die Augen.
»Si«, sagte sie leise seinen Spitznamen, schlang dann die Arme um ihn und drückte ihn fest. Simon wehrte sich nicht und tätschelte ihr unbeholfen die Schultern und den Rücken. Nach einem Moment löste sie sich von ihm, wischte sich die Augen und runzelte die Stirn. »Gott, ist dein Gesicht kalt«, murmelte sie. »Du solltest dir eine Mütze und einen Schal anziehen.« Sie musterte ihn vorwurfsvoll. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
»Das hab ich dir doch erklärt«, erwiderte Simon. »Ich war für ein paar Tage bei einem Freund.«
Rebecca lachte schnaubend. »Ach, Simon, erzähl mir doch nichts. Was zum Teufel ist hier los?«
»Becks … «
»Ich hab zu Hause angerufen, wegen Thanksgiving«, sagte Rebecca und starrte auf die Bäume. »Ich wollte wissen, welchen Zug ich nehmen soll und so weiter. Und weißt du, was Mom gesagt hat? Sie meinte, ich bräuchte gar nicht zu kommen, denn dieses Jahr würde Thanksgiving ausfallen. Also hab ich versucht, dich zu erreichen. Aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Daraufhin hab ich Mom erneut angerufen, um herauszufinden, wo du steckst. Sie hat aufgelegt. Hat einfach den Hörer aufgelegt. Also bin ich nach Hause gefahren. Und dann habe ich dieses ganze religiöse Zeugs an der Haustür gesehen. Als ich Mom zur Rede gestellt hab, hat sie behauptet, du wärst tot. Tot . Mein eigener Bruder. Sie sagte, du wärst tot und ein Monster hätte deinen Platz eingenommen.«
»Was hast du dann getan?«
»Ich hab mich aus dem Staub gemacht, und zwar so schnell wie möglich«, erzählte Rebecca. Simon wusste, dass sie versuchte, stark und unerschrocken zu klingen, aber in ihrer Stimme schwang eine nervöse, ängstliche Note mit. »Ich hab angenommen, dass Mom jetzt endgültig durchgedreht war.«
»Oh«, murmelte Simon. Seine Schwester und seine Mutter hatten schon immer ein angespanntes Verhältnis gehabt. Rebecca bezeichnete ihre Mutter gern als »durchgeknallt« und nannte sie »die verrückte Alte«. Aber nun hatte Simon zum ersten Mal das Gefühl, dass sie es auch wirklich so meinte.
»Das kannst du laut sagen: Oh«, fauchte Rebecca. »Ich hatte totale Panik und hab dir alle paar Minuten eine SMS geschickt. Und endlich krieg ich eine nichtssagende Antwort von dir: Du wärst bei einem Freund! Und jetzt willst du dich hier mit mir treffen. Was läuft hier, Simon? Und wie lange geht das schon so?«
»Wie lange geht was schon so?«
»Was glaubst du denn wohl?! Natürlich die Tatsache, dass Mom total durchgeknallt ist.« Rebeccas kleine Finger zerrten an ihrem Schal. »Wir müssen irgendwas unternehmen. Mit jemandem reden. Mit einem Arzt. Sie mit Tabletten oder sonst wie behandeln lassen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Jedenfalls nicht ohne dich. Du bist mein Bruder.«
»Ich kann nicht«, sagte Simon. »Ich meine, ich kann dir nicht helfen.«
Rebecca seufzte und ihre Stimme bekam einen sanfteren Ton: »Ich weiß, dass das alles furchtbar nervig ist und du noch auf die Highschool gehst, aber wir müssen diese Entscheidungen gemeinsam treffen, Simon.«
»Ich meine, ich kann dir nicht dabei helfen, Mom Tabletten zu besorgen. Oder sie zu einem Arzt zu bringen«, erklärte Simon. »Denn sie hat recht: Ich bin ein Monster.«
Einen Moment lang starrte Rebecca ihn mit offenem Mund an. »Hat sie dich einer
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