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Clara

Clara

Titel: Clara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koller
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am
nächsten Tag würde ich nach der Arbeit in die Hauptstadt fahren und das Kuvert
vorm Augustinerspital in den Nachtbriefkasten einwerfen. Es war wichtig, dass
Bergmann die DVD als Erster sah. Die Polizei konnte dann damit tun, was immer
sie wollte. Mir war klar, dass sie den Inhalt genauestens überprüfen und das
Theater bald durchschauen würden. Nur war es dann vielleicht schon zu spät. Und
sie würden damit hadern, dieses harmlose Päckchen vor seiner Aushändigung nicht
genauer untersucht zu haben.

 
    5

 
    Clara lag
zusammengekauert auf dem Bett. Sie fror fürchterlich. Trotz der beiden
Jogginganzüge, die sie am Körper trug. Trotz der vielen Socken. Trotz der
dicken Decke, in die sie eingehüllt war. Es mussten bereits Tage vergangen
sein. Und es war kein Strom gekommen. Kein Licht. Der Alptraum hatte sie nun
voll erfasst. Sie konnte keine warmen Mahlzeiten mehr zubereiten, denn das
Feuerzeug war kaputtgegangen. Und in der letzten Kartusche war nicht mehr allzu
viel Gas. Also rührte sie die Fertignahrung ins eiskalte Wasser. Jeder Bissen,
den sie tat, ließ sie erschaudern. Nur die Ratte aß weiterhin mit Genuss. Die
Ratte, die mittlerweile regelmäßig unter ihre Decke kroch. Ihre Situation wurde
jeden Tag bedrohlicher. Nur mit Mühe konnte sie ihre Körperpflege betreiben. Zu
sehr fürchtete sie das eiskalte Wasser auf ihrer unterkühlten Haut. Auch der
Gang zur Toilette gestaltete sich äußerst schwierig. Sie verschüttete in der
Dunkelheit jede Menge Sand und hatte auch mit dem Hantieren der Zylinder ihre
liebe Not. Schon zwei Stück davon hatte sie irgendwo beim Gitter umgeleert. Der
Geruch breitete sich wie in einer Kloake aus. Das Verlies hatte sich binnen
kürzester Zeit in eine Brutstätte für Krankheitserreger verwandelt. Clara sah
keinerlei Möglichkeit, dem irgendwie Herr zu werden. Sie brauchte Licht. Oder
zumindest eine Kerze und Streichhölzer. Zu dem kam, dass sie sich in keiner
Weise beschäftigen konnte. Lesen, fernsehen, Kreuzworträtsel lösen. Selbst
Putzen erschien ihr nun als erstrebenswertes Privileg. Doch es war nur
Dunkelheit, die sie umgab. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Sie begann, sich
Sorgen über ihren eigenen Geisteszustand zu machen. Ja, sie hatte Angst davor,
hier verrückt zu werden. In diesem grausamen Kerker voll der Entbehrungen. Es
gab Momente, in denen sie Leute vor sich auftauchen sah. Unbekannte Menschen.
Schemenhaft. Mit grinsenden Mündern. Sie wusste nicht, ob das im Schlaf oder im
Wachzustand passierte. Selbst über diese beiden Dinge war sie sich nicht mehr
im Klaren. Schlief sie? Oder war sie etwa wach? Und wo war Jerry?
    »Jerry!
Jerry! Lass mich nicht alleine !« , rief Clara in den
finsteren Raum. Sie hustete. Stieg aus dem Bett, um ihn zu suchen. »Jerry!«
Doch Jerry war nicht auszumachen. Sie stolperte. Schlug mit einem Knie gegen
den Stuhl. Jetzt hörte sie es rascheln. »Jerry?« Sie setzte sich auf den
Sessel. Die Ratte stupste sie an den Füßen an. Clara nahm sie hoch. »Ach,
Jerry, Gott sei Dank !« Dann kamen sie wieder. Wie
Geister. Sie drückte die Ratte fest an sich und schloss die Augen. Sie begann
zu beten.

 
    6

 
    Ich starrte
auf die beiden dunklen Monitore. Irgendwo hinter dem schwarzen Schleier verbarg
Clara sich. Frierend und hungernd. Endlos verzweifelt. Ich legte den Schalter für
die Stromzufuhr um. Die Bildschirme leuchteten hell auf. Clara wand sich auf
ihrem Bett. Hielt die Decke über ihren Kopf. Nach gut zwei Wochen Dunkelheit
wirkte das plötzlich auftretende Licht wie ein Stich direkt in ihre Augen. Nur
langsam gewöhnte sie sich wieder daran und stand endlich auf. Blickte sich in
ihrem Verlies um. Selbst am Monitor war ihr schauderhafter Zustand zu erkennen.
Ich öffnete die Klappe zur Schleuse und stieg mit frischem Proviant hinab. Als
ich durch die Stahltür trat, erwartete Clara mich bereits. Wie ein ebenso
verängstigtes als auch neugieriges Tier huschte sie direkt vor die Gitterstäbe
und folgte mir, während ich mit einem Karton in den Händen den Gang entlangschritt . Ihr langes, blondes Haar wirkte
unordentlich, ausgezehrt, fettig. Clara wirkte eher wie eine Pennerin auf mich.
Abgetragene, schmutzige Kleider, ungepflegte Haut. Kleine Furchen im Gesicht,
dunkel umrandete Augen. Ihre Schönheit war wie weggefegt. Wie ein Relikt aus
längst vergangener Zeit. Es brach mir beinahe das Herz, sie so zu sehen. So
völlig erniedrigt. Die Schöne war zum Biest geworden. Ich stellte die Schachtel
vor der

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