Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
nicht mehr so mächtig wie zuvor. Sonst hätte ich schon gehorchen müssen.
Clara hob die Hand und starrte sie im Dämmerlicht an. Natürlich bewege ich mich gar nicht wirklich, rief sie sich in Erinnerung. Ich bin eine Puppe. Das ist Grisinis Zauber. Und Madama kann sich Zugang zu meinem Kopf verschaffen und meine Gedanken lesen und mir sagen, was ich tun soll. Das ist ihr Zauber . Aber ich gehorche ihr nicht. Noch nicht. Das ist mein Zauber.
Zauber war nicht ganz das richtige Wort. Doch die Vorstellung, dass sie die Macht besaß, es hinauszuzögern, bis sie dem Befehl folgte, jagte Clara einen erregten Schauer über den Rücken. Sie legte ihre flache Hand an die Tür, um ihren Widerstand dramatisch zu betonen: Nein. Ich komme nicht.
Die Hexe bestrafte sie. Eine Hitze kam über Clara, die ihr den Atem nahm. Die rötliche Wolke schloss sie ein. Farbige Funken stachen sie und versengten ihre Haut. Clara wappnete sich dagegen. Das ist nicht real , sagte sie sich. Nichts von alldem ist real. Ich stehe in Wahrheit gar nicht an der Tür. Das passiert nur in meiner Vorstellung. Meine Haut wird gar nicht verbrannt. Das ist ein böser Zauber .
Die Hexe reagierte auf diese Gedanken mit einem Wutgebrüll. Wenn du nicht zu mir kommst, Clara Wintermute, komme ich zu dir! Und das wirst du bereuen!
Das kannst du nicht. Ich bin im Turm. Und die Tür ist verschlossen . Noch während Clara das dachte, sank ihr Mut. Was, wenn die Macht des Phönixsteins so stark war, dass er die Tür durchbrechen konnte? Nur allzu bald hörte sie Schritte draußen im Korridor. Schwere, ungleichmäßige Schritte – die eines Menschen, der schwach und alt, vielleicht auch etwas benommen war. In Claras Kopf drehte sich alles, als sie das Schwindelgefühl der Hexe erfasste. Sie taumelte Halt suchend gegen die Tür. Der rote Nebel umhüllte sie, ihre Kehle war ausgedörrt und ihre Augen schmerzten wegen der Hitze.
Hinter ihr raschelte es. Erschrocken fuhr Clara herum und sah Parsefall aus dem Zelt spähen. Er kauerte geduckt auf allen vieren wie eine verängstigte Katze. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, doch Clara wusste, was in ihm vorging. Er glaubte, Grisini habe sein Versteck aufgespürt. Parsefall war überzeugt, dass da draußen der Puppenmeister stand.
Cassandra rüttelte am Knauf. Sie riss daran und hämmerte gegen die Tür, sodass sie im Rahmen wackelte.
Clara drehte sich wieder zur Tür. Sie dachte an Parsefalls Angst und wurde von einer rasenden Wut gepackt. Sie erinnerte sich an die Tobsuchtsanfälle, die sie manchmal bekommen hatte, als sie noch ein kleines, ungezogenes Kind war – bevor Die Anderen starben. Sie trat heftig gegen die Tür. Geh weg! Hier kommt niemand rein! Ganz bewusst versetzte Clara sich zurück in das trotzige Mädchen von einst. Sie kreischte und stampfte mit den Füßen auf. Sie trommelte gegen die Holztür, bis ihre Fäuste taub wurden. Geh weg! Geh weg! Lass uns in Frieden!
Ein lauter, dumpfer Schlag war zu hören, das Geräusch eines schweren Körpers, der auf dem Boden aufschlug. Clara erstarrte. Die plötzliche Stille schien von den Wänden widerzuhallen. Ich habe sie umgebracht, dachte Clara mit Entsetzen. Nein! Da drang ein gedämpftes Stöhnen durch die Tür … Madama rief um Hilfe. Ein weiteres Ächzen, dann Stille. Clara spürte, wie ihre Muskeln schlaff wurden. Die Schatten um sie herum erstarrten. Sie sah den schwachen Lichtschimmer in den Fenstern nicht mehr.
Sie lag wieder unter dem Tisch auf dem Bärenfell.
Clara lauschte, wie Parsefall aufstand und auf Zehenspitzen zur Tür ging. Er wagte es nicht, den Riegel zurückzuschieben, um nachzusehen, wer im Flur zusammengebrochen war. Es dauerte nicht lang, da kroch er zurück in seinen Zeltunterschlupf. Stocksteif lag er da, sein Herz schlug doppelt so schnell wie sonst, und als er endlich einschlief, zog die Morgendämmerung schon herauf.
39. Kapitel
Weihnachten auf Strachan’s Ghyll
L izzie Rose schlief lange am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages. Noch bevor sie ganz wach war, fiel ihr wieder ein, welcher Tag war. »Weihnachten«, murmelte sie benommen und überlegte, ob es wohl ein fröhliches oder ein trauriges Fest werden würde. Das letzte Weihnachtsfest, das erste nach dem Tod ihrer Eltern, hatte ihr beinahe das Herz gebrochen. Doch die Jahre davor war es immer schön gewesen.
Sie schlug die Bettdecken zur Seite und tapste über den Teppich zum Fenster. In der Nacht hatte es leicht geschneit und das
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