Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
weißen Schneekristallen. Das Farbenspiel hypnotisierte sie: Blutrot und Grasgrün und Pfauenblau …
Ein Stöhnen riss sie aus ihrer Träumerei. »Bitte«, schluchzte Cassandra, »ich will ihn wiederhaben. Gib ihn mir zurück.« Die Hexe weinte mit offenem Mund wie ein kleines Kind. Ihr Mund und Kinn waren schleimverschmiert. Clara schauderte. Sie umfasste den Opal mit zwei Handvoll Schnee und drückte ihn an die Brust. Schon wandte sie der Hexe den Rücken zu, eilte durch die Flügeltür und die große Treppe hinunter …
Grisini beobachtete sie.
Er klammerte sich Halt suchend am Fuß der Treppe an den Pfosten der Balustrade. In dem dämmrigen Schein einer Lampe wirkte das Blut auf seinen Wangen schwarz.
»Clara!«, wisperte er freudig. »Kleine Clara! Du hast den Phönixstein, nicht wahr, mia piccina? « Die kreiselnde Bewegung seiner Finger, mit der er ihr bedeutete, zu ihm zu kommen, erinnerte an die Speichen eines Rads. »Von heute Nacht an teilen wir uns die Zauberkräfte des Steins – du und ich! Der Stein gehört dir und du bist mein! Vieni qua, madamina! Komm, meine kleine Puppe!«
Puppe. Clara erstarrte. Ihre Gedanken rasten, als sie fieberhaft ihre Möglichkeiten abwog. Die Eingangstür befand sich unweit der Treppe, aber Grisini könnte sich von hinten heranpirschen, während sie mit dem Schloss kämpfte. Wenn sie kehrtmachen und die Stufen wieder hinauflaufen würde, bestand die Gefahr, dass sie ihn zu Parsefall führte. Für den Bruchteil einer Sekunde zog sie in Betracht, Grisini den Feueropal einfach zu überlassen. Sollte er doch den Fluch des Steins erleiden. Allerdings malte sie sich dann aus, wie Grisini die magischen Kräfte nutzen würde, und so wappnete sie sich, um ihn zu überlisten.
Sie blickte die Treppe hinunter. Die dunkelste Stelle lag auf halbem Weg, in gleicher Entfernung zur unteren und oberen Lampe. Clara schlich treppab in den Schutz des Schattens. Mit einer Hand zerriss sie die Kette ihres Geburtstagsmedaillons. »Da haben Sie’s!«, kreischte sie und schleuderte das Medaillon in Richtung Grisini.
Mit einem metallischen Klirren landete es auf den Fliesen. Grisini sank auf alle viere und suchte tastend nach dem Anhänger. Jetzt schoss Clara die restlichen Stufen hinunter, an ihm vorbei und in den großen Saal, durch dessen hohe Fenster man den See überblickte. Der See, dachte Clara, während sie über die Schwelle ins Musikzimmer sprang. Gerade als sie die Bibliothek erreichte, schallte Grisinis Wutschrei durch die Räume. Er hatte ihr Geburtstagsmedaillon gefunden und das Täuschungsmanöver durchschaut. Auch Clara schrie jetzt. Sie wollte das Hauspersonal wecken. Doch sie konnte nicht abwarten, bis Hilfe kam. Sie musste nach draußen, auf den See.
Grisini holte auf. Die Dunkelheit zwischen ihnen war stickig und faulig, verpestet von seiner Gegenwart. Clara stieß auf die Dienstbotentreppe und hastete die engen Stufen, so schnell sie konnte, hinunter. In den Kellergewölben herrschte völlige Finsternis, und so irrte sie herum, bis sie endlich blindlings in die Küche stolperte. Rasch schob sie den Riegel an der Hintertür zurück.
Über dem verschneiten Garten lag eine eigentümliche Helligkeit. Der Himmel war nicht schwarz, sondern von einem ungewöhnlichen Rosa. Die Farbe erinnerte an Wein, den man mit Asche und Wasser verdünnt hatte. Wie schwarze Schattenrisse zeichneten sich die Bäume vor dem Himmel ab. Clara bückte sich und schaufelte frischen Schnee zusammen. Krachend fiel die Küchentür ins Schloss. Sie machte einen Satz und rannte den Hang hinunter. Einmal stolperte sie, war aber im Nu wieder auf den Beinen und stürmte auf den See.
Die Eisdecke hielt. Clara wagte sich schlitternd und rutschend immer weiter vom Ufer fort. Ihre Finger, die den tropfenden Schneeklumpen umklammerten, wurden taub. Sie hörte Grisinis Füße durch den Schnee schlurfen und schaute über die Schulter, um zu sehen, wo er war.
Er zögerte kaum merklich am Ufer, trat dann auf das Eis und steuerte auf sie zu. Er reckte schon die Hände vor, um seine dreckigen Klauen in ihre Haut zu graben. Clara dachte daran, wie lange Parsefall im Schatten dieses Mannes gelebt hatte. Eine Woge von Liebe und Wut schwoll in ihr an und ihre Angst schmolz dahin. Solange Grisini sie jagte, würde sie rennen. Falls er sie zu fassen bekam, würde sie kämpfen. Sie würde eher sterben, als ihm den Stein zu überlassen. Sie hielt den eisigen Schneeklumpen noch fester und presste ihn an ihr
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