Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
hier?«
»Oh, bitte, gnädige Frau«, bat Lizzie Rose inständig, »es ist furchtbar kalt und wir sind nicht richtig angezogen. Können wir nicht erst nach drinnen gehen?«
»Und ob«, schnaubte Mrs Fettle. »Und sobald wir im Haus sind, will ich die ganze Geschichte hören.«
Bei dieser Aussicht wurde Lizzie Rose ganz bange. Sie folgte der Haushälterin den Pfad entlang und überlegte krampfhaft, wie sie einem Erwachsenen die Ereignisse des Abends erklären sollte. Sie hatte noch immer keinen blassen Schimmer, als sie am Haus eintrafen.
Die Küchentür war angelehnt. Clara hastete zum Ofen und kniete sich zähneklappernd davor. Eine Armlänge von ihr entfernt kauerte sich Parsefall auf den Boden. Lizzie Rose griff nach dem Schürhaken und stocherte in den Kohlen, worauf eine Wolke aus Rauch und Asche die Küche füllte.
»Würden Sie uns bitte eine Schüssel mit kaltem Wasser holen, Mrs Fettle? Parsefall ist barfuß und Claras Schuhe sind durchnässt – ich fürchte, die beiden könnten Erfrierungen davontragen.«
Mrs Fettle brachte die Schüssel mit Wasser und knallte sie vor Parsefall auf den Boden. »Hier. Stell dich da rein und tau deine Füße auf.«
Parsefall tauchte einen Fuß in das Wasser und zuckte zurück. »Verflucht, ist das heiß!«, rief er entrüstet.
»Ist es nicht!«, fuhr Mrs Fettle ihn an. »Das Wasser ist kalt, es fühlt sich nur heiß an, weil du halb erfroren bist. Und ich möchte dich bitten, hier im Haus auf solche Ausdrücke zu verzichten.« Dann warf sie Clara einen scharfen Blick zu. »Und jetzt will ich wissen, wer du bist und was du hier zu suchen hast. Woher kommst du?«
Clara überging die ersten beiden Fragen und beantwortete die dritte: »Aus London, gnädige Frau.«
Die Haushälterin zog die Augenbrauen hoch. »Wenn du in London lebst, warum bist du dann hier? Seit wann bist du hier und wer sind deine Eltern? Warum warst du mitten in der Nacht auf dem See draußen und ganz ohne Mantel?«
Clara zögerte. Sie nestelte an den Knöpfen des geliehenen Mantels herum, um Zeit zu schinden.
Lizzie Rose ergriff das Wort. »Grisini hat sie gejagt.«
»Gejagt?«, rief Mrs Fettle. »Grisini aus dem Torhaus unten? Der ist zu schwach, um irgendjemanden zu jagen. Warum um Himmels willen –«
Parsefall schnitt ihr das Wort ab. »Er is’ nich’ im Torhaus. Er is’ tot. Er is’ in den See gefallen.«
»Du meinst, jetzt eben?« Mrs Fettle starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Heute Nacht? Du willst sagen, er ist da draußen?«
Sie drehte sich um und sah ihren Sohn eindringlich an. »Mark …?«
Mark Fettle schüttelte entgeistert den Kopf.
Parsefall hörte auf, sich die Zehen zu reiben. »Er ist ertrunken«, erklärte er. »Ich hab’s gesehen. Das Eis is’ eingebrochen und er is’ zwischen den Eisbrocken ins Wasser gerutscht. Er hat sich noch an der Kante festgeklammert, aber dann hat er sich nich’ halten können, weil das Eis immer weggebrochen is’. Und dann is’ er untergegangen und nich’ mehr aufgetaucht. Stimmt doch, Lizzie Rose? Wir haben’s beide gesehen. Und Clara auch.«
Lizzie Rose blickte Mrs Fettle flehend an. »Wir konnten es nicht verhindern, Mrs Fettle, wirklich nicht. Es ging zu schnell.«
»Ihr hättet es mir erzählen müssen«, sagte die Haushälterin vorwurfsvoll. Sie griff nach dem Wasserkessel, als wollte sie ihn füllen, doch stellte ihn wieder ab. »Wir müssen nach dem Arzt schicken …«
»Er is’ tot!«, wiederholte Parsefall mit Nachdruck.
Mrs Fettle blickte mit gerunzelter Stirn zur Decke, während sie die nächsten Schritte plante. »Es muss eine Sterbeurkunde ausgestellt werden. Der Wachtmeister sollte besser auch kommen. Du musst noch mal los, Mark.«
»In Ordnung, ich breche gleich auf.« Mark Fettle blickte unsicher zu Clara hinüber. Die stand auf, schlüpfte aus seinem Mantel und gab ihn ihm zurück. Mark tippte sich an die Hutkrempe. »Danke, Miss.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Clara höflich.
Mark zog den Mantel über und verließ das Haus.
Das scheppernde Läuten einer Glocke ließ alle zusammenzucken. »Gütiger Himmel!«, rief Mrs Fettle. »Madama!« Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und eilte aus der Küche.
Sobald sie weg war, entfuhr Lizzie Rose ein erleichterter Seufzer. Zumindest für eine kleine Weile blieben ihnen weitere Fragen erspart. Mit einem Mal bekam sie weiche Knie und ihr wurde bewusst, dass sie zitterte. So viel war passiert: die versuchte Flucht, die Folterung
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