Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Klumpen Bienenwachs und eine Nadel.
Er hängt mich an Fäden, dachte Clara. Sie wollte ihren gemalten Mund zu einem Freudenschrei aufreißen.
Parsefall biss ein Stück Faden ab, saugte an einem Ende und fädelte es in die Nadel ein. Er knotete einen Faden dicht an ihrer linken Schläfe fest – Clara begriff, dass dort eine Schraube sein musste – und zog den Faden hoch zum Spielkreuz, das am Galgen hing. Clara hob mit hängendem Kopf und baumelndem Körper vom Boden ab. Parsefall senkte sie wieder so weit, dass ihr linker Fuß flach auf dem Boden stand. Dann kniete er sich abermals hin und führte einen Faden durch die Schraube auf der anderen Seite ihres Kopfs. Da stimmt etwas nicht, wollte Clara ihm zurufen, mein rechtes Knie knickt ab . Als hätte er sie gehört, griff Parsefall nach oben und regelte die Spannung des Fadens neu.
Clara war wie elektrisiert von seinen Berührungen. Während die Fäden durch ihre Gliedmaßen gezogen wurden, hatte sie das Gefühl, als wären ihre Knochen mit Luft gefüllt. Sie brannte darauf, dass Parsefall das Spielkreuz vom Galgen nahm. Sie malte sich aus, wie sie auf Spitzen tanzen würde, leicht und biegsam und frei. Sie fragte sich, ob Parsefall das Gleiche dachte. Ihr kam es so vor, als hörte sie Münzen klappernd in eine Blechdose fallen und prasselnden Applaus.
Unten schlug eine Tür zu. »Futsch!«, kreischte der Papagei triumphierend. Augenblicklich brach ein ohrenbetäubendes Gekläffe los. Clara erkannte Lizzie Roses Schritte auf der Treppe und das kratzende Geräusch von Rubys Krallen. Die Tür ging auf, der Hund stürmte herein und flitzte mit einem Affenzahn durch das Zimmer.
Parsefall schrie auf, riss Clara hoch und umklammerte sie. Einen Moment lang ruhte ihr Kopf an seiner Brust und sie hörte seinen Herzschlag. Er war schnell und kräftig. Sie spürte, wie er sie in die Luft hielt. Der Spaniel sprang an seinen Knien hoch.
»Ruby!«, rief Lizzie Rose und nahm die Verfolgung auf. »Komm her!«
Der Hund entwischte ihr und rannte in einem großen Bogen um den Teppich herum. Nach einer weiteren Runde durch das gesamte Zimmer ließ sich Ruby vor dem Kamin nieder. Ihre schwarzen Lefzen waren wie zu einem Lächeln geöffnet und die rosafarbene Zunge hing heraus.
»Verfluchter Mistköter!«, schimpfte Parsefall.
»Ist sie nicht«, widersprach Lizzie Rose entrüstet. Ihr Blick fiel auf Clara. »Oh, Parsefall! Was machst du da mit Clara?«
»Ich hab ihr nich’ wehgetan«, verteidigte sich Parsefall. »Ich hab se nur an ein paar Fäden aufgehängt. Es gefällt ihr.«
»Das kann sie nicht mögen. Sie ist nicht …«, setzte Lizzie Rose an. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ das Thema fallen. »Das ist jetzt egal. Ich muss mit dir reden.«
Parsefall wandte ihr den Rücken zu und hängte Claras Spielkreuz zurück an den Galgen. »Ich hab nix gemacht, wo falsch war«, sagte er reflexhaft.
»Ich habe nichts Falsches getan«, verbesserte ihn Lizzie Rose. Sie knöpfte ihren Mantel auf und warf ihn über die Armlehne eines Stuhls. Sie griff in ihren Muff und holte einen Retikül aus grauer Seide hervor. »Ich habe das hier heute gefunden. Hast du den schon einmal gesehen?«
»Nein. Wo war der?«
»In Grisinis Zimmer. Der Beutel war in die Matratze gestopft.« Lizzie Rose zwängte ihre Finger in die Öffnung des eleganten grauen Damenbeutels und zog eine Handvoll funkelnder Gegenstände hervor. »Schau bloß, Parsefall! Da war auch noch eine goldene Herrenuhr dabei – nicht Grisinis mit dem Wolf und dem Schwan –, eine andere, sehr groß und schwer. Und hier sind zwei Armbänder, eines mit glitzernden Steinen besetzt und das andere mit Perlen. Ich glaube, dass das echte Perlen sind, keine aus Fischschuppen und Glas. Die goldene Uhr habe ich zum Pfandleiher gebracht. Stell dir bloß vor: Mr Grimes hat mir zehn Pfund dafür gegeben!«
»Zehn Mäuse?«
»Ja, zehn«, bekräftigte Lizzie Rose. »Sie ist aus echtem Gold. ›Eine goldene Repetieruhr‹, hat Mr Grimes gesagt. Sie muss ein Vermögen wert sein, wenn er mir so viel dafür gibt. Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht klar denken konnte. Ich habe die zehn Pfund genommen, aber den ganzen Heimweg über musste ich grübeln, weil es doch wirklich seltsam ist, dass Grisini solche Dinge besessen hat! Er hat immer behauptet, wir seien so arm. Dabei muss er doch gewusst haben, was in der Matratze war. Sie hat sich gewaltig ausgebeult. Ich weiß nicht, wie er darauf schlafen konnte. Und dann habe ich mir
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