Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Teetasse zu ihrer großen Freude mit Rosenknospen bemalt. Parsefall vertilgte fast eine ganze Aalpastete, schlürfte unzählige Austern und brachte Lizzie Rose zum Lachen, indem er aus den leeren Muschelschalen Kastagnetten machte. Als die Kinder das Royal Saxon verließen, waren sie so pappsatt, dass es sich fast schon unangenehm anfühlte, aber sie klagten nicht.
Draußen war es mittlerweile stockdunkel geworden und es nieselte. Die Kirchenglocken schlugen sieben Uhr. »Um acht Uhr fängt es an«, sagte Parsefall eindringlich und trieb Lizzie Rose auf dem Weg über den Haymarket zum Piccadilly Circus zur Eile an. Auf den Straßen stauten sich die Kutschen mit elegant gekleideten Herrschaften, die ins Theater fuhren. Männer mit Reklametafeln schlenderten auf und ab und machten Werbung für die Vorstellungen. Ein Feuerschlucker ging an einer Straßenecke seinem Gewerbe nach, an einer anderen ein Bibelverkäufer. Jede Menge Müßiggänger bevölkerten die Trottoirs: Männer mit Zylindern und Mädchen mit geschminkten Gesichtern. Zu Lizzie Roses Leidwesen begeisterte sich ein junger Mann lauthals für die Farbe ihres Haars, wünschte ihr lallend einen schönen Abend und heftete sich an ihre Fersen.
»Was will’n der?«, fragte Parsefall. »Woher kennst du den?«
»Ich kenne ihn nicht«, antwortete Lizzie Rose knapp. Sie duckte sich zwischen zwei Kutschen und zog Parsefall mit sich. »Männer kommen hierher, um Frauen anzustarren. Er findet mich hübsch.«
»Was für ein Volltrottel«, sagte Parsefall – ein Kommentar, mit dem Lizzie Rose nicht ganz glücklich war. »Komm schon, Foxy-Loxy. Dem seine Blicke tun dir nix.«
Lizzie Rose war sich da nicht so sicher und sie verspürte Erleichterung, als sie die Egyptian Hall erreichten. Das Gebäude selbst mit den zwei fast nackten Statuen über dem Hauptportal fand sie befremdend. Sie vermutete, dass es sich dabei um heidnische Götter handelte. Allerdings trugen sie Perücken und das war doch sonderbar: Man sollte doch meinen, dass übermenschliche Wesen in der Lage wären, sich mit ausreichend Haar auszustatten.
»Los«, drängte Parsefall, »gehen wir rein.«
Sie schritten zwischen den Papyrussäulen hindurch in einen farbenprächtigen und fremdartig anmutenden Saal. Er war mit Unmengen von Hieroglyphen und Statuen geschmückt, die Krokodile, Sphinxe und Falken mit Perücken zeigten. Lizzie Rose blieb kaum Zeit, das alles zu bewundern, denn Parsefall hatte es eilig, ihre Sitze zu sichern. Sie bezahlten den Schilling Eintritt, bahnten sich einen Weg durch die Menge mit mehr Nachdruck, als es die guten Manieren verlangt hätten, und ließen sich schließlich in der dritten Reihe nieder.
Parsefall legte den Kopf in den Nacken und schaute zur Decke. Lizzie Rose folgte seinem Blick. Weit über ihnen hing ein gewaltiger Kronleuchter, der glitzerte wie ein vereister Baum. Vor ihnen lag eine Bühne mit einem olivgrünen Vorhang. Umrahmt vom Faltenwurf des Bühnenvorhangs, stand ein kleineres Theater wie ein Pavillon aus Gold- und Silberbrokat.
»Das ist die Bühne für die fantoccini« , wisperte Parsefall. Der neue Begriff Marionetten war ihm noch immer fremd. Es gab auch ein Orchester. »Neun Musiker«, zählte Parsefall an seinen neun Fingern ab. Als die Männer anfingen, ihre Instrumente zu stimmen, fuhr er herum und forderte die Leute in der Reihe hinter ihnen so zornig auf, still zu sein, dass sie fast eine Minute lang schwiegen.
Die Vorstellung begann. Zunächst traten ein Zauberkünstler und ein Mann mit dressierten Hunden auf. Der Zauberkünstler hatte braune Locken und ein verführerisches Lächeln. Lizzie Rose verliebte sich auf der Stelle in ihn, vergaß ihn aber gleich wieder, als die Hunde auf die Bühne kamen. Es waren zwei. Sie trugen Kostüme aus rosafarbenem und blauem Satin und tanzten eine Minute lang auf den Hinterbeinen. Parsefall rutschte ungeduldig hin und her. Er wollte die Royal Marionettes sehen! Als sich endlich die Vorhänge des Miniaturtheaters öffneten, reckte er sich so gierig vor wie ein durstiger Mann vor dem ersten Schluck.
Während der nächsten zwei Stunden wandte er die Augen keine Sekunde von der Bühne ab. Auch Lizzie Rose verfolgte die Vorstellung, doch ab und an wanderte ihr Blick zu Parsefalls Gesicht neben ihr. Er war hingerissen, kein Wunder: Vor ihm tat sich eine andere Welt auf, greifbar, köstlich und auf gespenstische Weise lebendig. Es gab Ritter und Feen, Dämonen und Clowns, Schwertkämpfe, Klamauk und Ballett,
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