Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
an Madamas Anweisungen für den heutigen Tag: Die Kinder sollten sich im Haus umsehen und Weihnachtsgeschenke aussuchen. Lizzie Rose war sich ziemlich sicher, dass die Aufforderung, sich alles zu nehmen, was sie wollten, ein Test war, eine Falle. Sie wusste, dass sie ihre fünf Sinne beisammenhalten musste, und wünschte, das Pochen in ihrem Kopf würde nachlassen.
Lizzie Rose hatte auf eine Gelegenheit gehofft, Parsefall zu warnen, damit er sich nicht zu viele Geschenke nahm. Doch unerklärlicherweise konnte sie ihn nirgends finden. Das war ein weiterer Grund zur Sorge. Bislang war jeder Morgen auf Strachan’s Ghyll nach dem gleichen Muster abgelaufen: Lizzie Rose zog sich den Samtmantel über ihr Nachthemd, um mit dem Hund rauszugehen, und auf dem Weg nach draußen machte sie in der Küche halt, um die Dienstboten zu bitten, zwei Frühstückstabletts ins Grüne Zimmer hinaufzubringen. An diesem Morgen hatte sie das Grüne Zimmer bei ihrer Rückkehr leer vorgefunden. Parsefall war zwar offensichtlich dort gewesen und hatte sich seinen Anteil an Porridge, warmen Brötchen, Frühstücksspeck, Marmelade und Tee geholt, aber anschließend war er verschwunden und Lizzie Rose hatte ihn den ganzen Vormittag über nicht zu Gesicht bekommen.
Jetzt stand sie mit Ruby an einem der hohen, schmalen Fenster, die sich aus kleinen, trüben Glasscheiben zusammensetzten, durch die die Farbe des Himmels blass wirkte und die Schneedecke einen grünlichen Schimmer erhielt. Lizzie Rose suchte die Landschaft nach einem mageren Jungen in grauer Jacke ab. Sie gab sich einen Ruck: Nein, Parsefall hasste die Kälte. Er musste irgendwo im Haus sein. Vielleicht würde sie ihn bei der Suche nach ihrem Weihnachtsgeschenk finden.
Sie begann ihre Schatzsuche im großen Saal, der mit den schwarz-weißen Bodenfliesen und den schweren Eichenholzmöbeln jahrhundertealt wirkte. Die Schwerter und Schilde an den Wänden übten keinen Reiz auf Lizzie Rose aus. Sie fragte sich, was der Sinn und Zweck eines derart riesigen, düsteren Saals sein sollte. Der Kamin war so breit, dass man nie genug Kohlen herbeischaffen könnte, um ihn zu beheizen, und der Wind fegte durch den Schornstein und brachte die Fensterscheiben zum Klirren. Fröstelnd schnippte Lizzie Rose mit den Fingern, damit Ruby ihr folgte, und gemeinsam gingen sie ins Musikzimmer weiter.
Es war kleiner als der große Saal und hatte eine weiblichere Note, mit dem vergoldeten Mobiliar, das zu zierlich wirkte, als dass man tatsächlich auf den Sesseln hätte Platz nehmen wollen. Doch die Saiten der Harfe waren gerissen und das Klavier hätte gestimmt werden müssen. Ruby japste vergnügt, trottete zum Kamin und suchte schnüffelnd nach Mäusen.
Lizzy Rose trat ins nächste Zimmer.
Während das Musikzimmer nahezu leer war, wartete hier ein überladenes Kuriositätenkabinett mit Geweihen, ausgestopften Vögeln und Tierknochen auf sie. Es gab ein spiralförmiges Horn, das nur von einem Einhorn stammen konnte, und an der Wand dahinter hing ein Tigerfell. Zum ersten Mal sah Lizzie Rose etwas, was auch als Umhang dienen konnte. Sie nahm das Fell von der Wand und legte es sich um die Schultern, dankbar für die zusätzliche Wärme. Ihr Blick schweifte über die zahlreichen Vitrinen an der gegenüberliegenden Wand.
Sie gewann den Eindruck, dass es nichts gab, was Madama nicht begehrte, nicht sammelte. Sie bestaunte Muscheln, Fischskelette und Korallen, die aussahen wie die Äste eines Baums. In gläsernen Schaukästen lagen unzählige Schmetterlinge. Lizzie Rose griff nach der Lupe, die daneben lag, und studierte die Muster auf den toten Flügeln. Sie waren von kunstvoller Schönheit wie Miniaturen aus Buntglas und sie stimmten traurig: Wie konnte man so grausam sein, einen Schmetterling zu töten? Lizzie Rose legte das Vergrößerungsglas zurück und griff stattdessen nach dem Gehäuse einer Meeresschnecke, um das Rauschen der Brandung zu hören.
Die letzte Vitrine des Zimmers beherbergte eine Sammlung von goldgerahmten Miniaturporträts, die auf Elfenbein gemalt waren. Die Farben wirkten so frisch und zart, dass es eine Weile dauerte, bis Lizzie Rose erkannte, dass die Bilder ausschließlich Herren zeigten. An jedem Rahmen war unten mit einem schmalen Band eine Haarlocke befestigt: Sämtliche Farbschattierungen waren vertreten von Weizengelb und Goldblond über Nussbraun, Kastanienrot und Schwarz bis zu Grau.
Lizzie Roses Mund öffnete sich zu einem lautlosen Staunen. Eine Haarlocke als Andenken
Weitere Kostenlose Bücher