Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
Vom Netzwerk:
Gleichgültigkeit gegenüber seinem Sohn vorzuwerfen, und wo sie nun schon den Weg der Vorwürfe eingeschlagen hatte, schüttete sie den ganzen Sack voller Beschwerden über ihm aus. Emílio hörte ihr einen Abend lang zu, ohne zu antworten. Damit die Sache sich nicht weiter zuspitzte und sich bis spät in die Nacht hineinzog, stimmte er seiner Frau schließlich zu. Hätte er zu früh zugestimmt, wäre Carmens ewiger Widerspruchsgeist nicht angestachelt worden. Es jetzt zu akzeptieren würde ihr keine Linderung verschaffen. Kaum hatte er zugestimmt, ging sie dazu über, genauso heftig oder noch heftiger zu attackieren, was sie zuvor verteidigt hatte. Erschöpft und benommen gab Emílio den Kampf auf und überließ es seiner Frau, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Was sie in eine gewisse Verlegenheit stürzte. Einerseits hätte sie gern ihren ursprünglichen Willen durchgesetzt, andererseits konnte sie nicht dem Wunsch widerstehen, gegen den Willen ihres Mannes zu handeln, und sie wusste, dass sie das tun würde, wenn sie den Arzt jetzt nicht holte. Henrique, der von diesem ganzen Streit nichts ahnte, löste das Problem auf die einfachste Art: Er wurde gesund. Als gute Mutter freute Carmen sich darüber, doch tief drinnen wäre ihr eine Verschlimmerung seines Zustands (sofern damit nicht eine echte Gefahr verbunden gewesen wäre) nicht unrecht gewesen, damit ihr Mann einsah, wie vernünftig sie war.
    Wie dem auch sei, solange Henrique im Bett lag, war es mit dem morgendlichen Faulenzen vorbei. Carmen musste einkaufen gehen, bevor ihr Mann das Haus verließ, und sie konnte nicht lange wegbleiben, damit sie ihn nicht daran hinderte, seiner Arbeit nachzugehen. Hätte eine solche Behinderung nicht ihrerseits die Haushaltskasse geschädigt, dann hätte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihrem Mann einen Strich durch die Rechnung zu machen, doch das Leben war schon schwierig genug, man musste es nicht noch durch Befriedigung kleinlicher Rachegelüste erschweren. Selbst in diesem Punkt hielt Carmen sich für vernünftig. Wenn sie allein war und weinend ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen konnte, beklagte sie, dass ihr Mann ihre guten Eigenschaften nicht zu schätzen wusste, er, der nur Fehler hatte, verschwenderisch, leichtfertig, an Heim und Sohn nicht interessiert war, unerträglich mit seiner ewigen Opfermiene, als fühlte er sich fehl am Platz und unerwünscht. In der ersten Zeit hatte Carmen sich oft gefragt, was die Gründe für die ständigen Reibereien zwischen ihnen waren. Sie waren ein Pärchen gewesen wie alle, hatten sich gerngehabt, und dann war plötzlich alles vorbei. Die Szenen hatten angefangen, die Diskussionen, sarkastische Bemerkungen – und seine Opfermiene, die sie am meisten reizte. Jetzt war sie davon überzeugt, dass er eine Freundin hatte, eine Geliebte. Ihrer Meinung nach beruhte jeder Ehestreit darauf, dass die Männer eine Freundin hatten … Männer sind wie Hähne, wenn sie gerade auf der einen Henne sitzen, denken sie schon an die nächste.
    An diesem Morgen ging Carmen sehr widerwillig einkaufen, denn es regnete. In der Wohnung wurde es still, von der Welt abgeschirmt durch die Ruhe der Nachbarn und das gedämpfte Geräusch des Regens. Im Haus herrschte einer der seltenen wunderbaren Momente der Stille und Friedlichkeit, als beherbergte es keine Geschöpfe aus Fleisch und Blut, sondern Gegenstände, Gegenstände, die eindeutig nicht beseelt waren.
    Für Emílio Fonseca hatten die Stille und Friedlichkeit nichts Beruhigendes. Es bedrückte ihn vielmehr, als wäre die Luft schwer und stickig geworden. Er empfand es als angenehme Pause, dass die Frau nicht da war und der Sohn still, aber ihn bedrückte die Gewissheit, dass es lediglich eine Pause war, nur ein Aufschub, aber keine Lösung. An das Fenster zur Straße gelehnt, blickte er in den sanften Regen und rauchte, vergaß die Zigarette aber die meiste Zeit zwischen den nervösen Fingern.
    Aus dem Nebenzimmer rief der Sohn. Er legte die Zigarette in einem Aschenbecher ab und ging zu ihm.
    »Was ist?«
    »Ich hab Durst …«
    Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit abgekochtem Wasser. Er richtete den Sohn halb auf und gab ihm zu trinken. Henrique schluckte langsam, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er wirkte so fragil, so geschwächt von dem unfreiwilligen Fasten, dass Emílio spürte, wie sein Herz sich vor plötzlicher Sorge zusammenkrampfte. »Welche Schuld hat dieses Kind auf sich geladen?«, fragte er sich. »Und

Weitere Kostenlose Bücher