Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
vergessen Sie nicht, Ihre Freundin befindet sich in meiner Gewalt. Benehmen Sie sich so, wie ich es von Ihnen erwarte, dann geschieht ihr nichts … Aber nur dann.«
Diesmal nahm ihr niemand die Tasche ab, und sie war gezwungen, die Reisetasche allein die schmale Treppe in ihre Kammer unterm Dach hinaufzutragen. Auch dort hatte sich nichts verändert. Dasselbe einfache Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe. Elektrisches Licht gab es nur im Erdgeschoss und im ersten Stock.
Sie fühlte erneut Übelkeit in sich aufsteigen, als sie die vertraute Umgebung sah. In dieser Kammer hatte Frank Whittler versucht, sie zu vergewaltigen, und sie hatte ihn in ihrer Panik von sich gestoßen, so fest, dass er mit dem Kopf gegen die Wand geprallt war und für einen Augenblick die Besinnung verloren hatte. Danach war ihr nur die Flucht geblieben. Einer der furchtbarsten Augenblicke in ihrem Leben und der Beginn einer Hetzjagd, die auch mit der Verhaftung von Frank Whittler noch nicht zu Ende war. Ausgerechnet sein Vater, der ihn anfangs verstoßen hatte, setzte sich plötzlich für ihn ein.
Sie stellte ihre Reisetasche vor den Schrank, zog ihren Mantel aus und warf ihn auf den Stuhl. Mit feuchten Augen trat sie ans Fenster und blickte über die Häuser am Ende der Straße auf die English Bay hinaus. Irgendwo dort draußen waren ihre Eltern. Ihr Vater war während eines Sturms über Bord gespült worden und ertrunken, die Mutter war, von Verzweiflung getrieben, ihm wenige Wochen später freiwillig gefolgt und ebenfalls ertrunken. Es gab kein Grab, zu dem sie pilgern konnte, nur eine Inschrift an einem Baum im Stanley Park. Arthur Howe, August 24, 1892 und Charlotte Howe, March 3, 1893. Neben beide Daten hatte sie ein Kreuz geritzt. Und es gab die Bilder ihrer Eltern, die ihr in Erinnerung geblieben waren, das zufriedene Lächeln ihres Vaters nach einem großen Fang, die Erleichterung ihrer Mutter über seine glückliche Rückkehr nach einem heftigen Sturm.
Sie faltete die Hände über dem Bauch. Ihr kam es beinahe so vor, als hätte sich dort etwas geregt, obwohl es eigentlich noch zu früh dafür war. War ihr Bauch dicker geworden? War ihr Kind schon so groß, dass es mehr Platz brauchte? In welchem Monat war sie überhaupt? Sie war viel zu verwirrt, um jetzt rechnen zu können. Zu viel war in den letzten Wochen auf sie eingestürzt. Gutes und Schlechtes, vor allem aber Schlechtes. Als hätten sich die bösen Geister, von denen der greise Medizinmann gesprochen hatte, mit Thomas Whittler und seinen Handlangern vereinigt, um ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Alex hatten sie fast schon besiegt, und jetzt war sie dran, fernab ihrer neuen Heimat, ausgerechnet in der winzigen Kammer, in der sie ihnen zum ersten Mal auf den Leim gegangen war. Sie fluchte leise vor sich hin.
Hier war sie wirklich allein. Ohne die Hand- und Fußfesseln, die ihr Smith angelegt hatte, und doch unfähig, dem Mann, der sie aus ihrer neuen Heimat entführt hatte, zu entfliehen. Genauso gut hätte sie in Ketten liegen können. Ihre einzige Hoffnung war der Brief, der jetzt schon auf dem Weg von Valdez nach Fairbanks und spätestens in weiteren zwei Wochen bei Dolly sein musste. Eine vage Hoffnung nur, räumte sie ein, denn wer sagte ihr, dass man tatsächlich herausfand, in welcher Hütte Betty-Sue gefangen gehalten wurde? Wenn Frank Whittler seine gerechte Strafe bekommen sollte und sie verhindern wollte, dass er sich doch noch auf irgendeine Weise an ihr rächte, musste man ihre junge Freundin befreien und die Zeitung informieren. In frühestens drei Wochen, so rechnete sie am nächsten Morgen aus, würde sie mit der Nachricht rechnen können. Aber auch nur dann, wenn sich alle guten Geister auf ihre Seite schlugen und ihr das Glück endlich einmal wieder hold war.
Auf Bones konnte sie in Vancouver nicht zählen. Selbst ein Geisterwolf ließ sich in einer Großstadt nicht blicken – nahm sie jedenfalls an. Und Alex wusste wahrscheinlich noch gar nichts von ihrer Entführung. Oder hatte der greise Medizinmann in einem Traum gesehen, was ihr widerfahren war, und war Alex trotz seiner Verwirrung schon auf ihrer Spur? Sie glaubte nicht, dass er schon bereit war, es mit einem so mächtigen Gegner wie Thomas Whittler aufzunehmen, und war davon überzeugt, dass der Indianer genauso dachte und ihm die Wahrheit verschwieg. Oh, wie sehnte sie sich danach, Alex wieder in die Arme zu schließen. Ohne
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