Clarissa - Wo der Himmel brennt
Weißt du, wie viele Pferde auf dem Weg zum Pass verendet sind? Die kann man kaum noch zählen. ›Dead Horse Trail‹ nennen sie den Trail. Und du willst im Winter zum Pass hinauf?«
»Ich muss, Buchanan. Ich muss.«
Clarissa zog sich in Windeseile um und stopfte auch das Buffalo-Bill-Magazin, das auf ihrem Nachttisch lag, in den Rucksack. Sie kannte die meisten Geschichten zwar schon auswendig, aber es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis sie wieder etwas zu lesen in die Hand bekam. Den Revolver verstaute sie in ihrer Jackentasche. Sie besaß nur die fünf Patronen, die in der Trommel steckten, hoffte jedoch wie immer, gar keine brauchen zu müssen. Mrs Buchanan packte ausreichenden Proviant für ein paar Tage in einen Beutel und füllte heißen Tee in eine Feldflasche. Innerhalb weniger Minuten war sie reisefertig. Den Rucksack, den ein Goldsucher in der Pension zurückgelassen hatte, trug sie auf dem Rücken. Ihre Reisetasche ließ sie bei Mrs Buchanan.
»Pass gut auf dich auf!«, wünschte ihr die Wirtin, bevor sie die Tür öffnete. »Ich sorge dafür, dass der Fremde nicht rausbekommt, wo du steckst.« Sie umarmten sich liebevoll. »Und melde dich, wenn du in Dawson City bist!«
»Auf Wiedersehen, Buchanan. Und vielen, vielen Dank für alles! Vielleicht habe ich nächstes Jahr schon alles überstanden und komme zu deiner Hochzeit, was meinst du? Dolly und ich könnten deine Trauzeuginnen sein …«
»Das wäre wundervoll, Clarissa! Und jetzt geh endlich!«
Clarissa trat in die Kälte hinaus. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und böiger Wind trieb ihr dichte Flocken entgegen. Eine dicke Schneedecke lag über dem gefrorenen Schlamm des Broadways, der auch im Winter und trotz der vielen neuen Läden eher wie eine gewöhnliche Hauptstraße wirkte. Selbst die Häuser auf der anderen Straßenseite waren in dem Schneetreiben nur als dunkle Schatten zu erkennen, und die Gletscher und der steile Trail zum White Pass lagen hinter milchigem Dunst verborgen. Das Heulen von ein paar Huskys und das rhythmische Hämmern aus der nahen Schmiede waren die einzigen Geräusche in der ungewohnten Stille. Außer ihr waren nur Goldsucher unterwegs, die aber gleich darauf in einem Saloon verschwanden.
Aus Angst, von dem Fremden beobachtet und schon nach wenigen Schritten aufgehalten zu werden, blieb sie im Schatten der überdachten Gehsteige. Leicht geduckt, als fürchtete sie, von irgendetwas getroffen zu werden, folgte sie der Straße, bog in die erste Seitengasse ab und ging hinter den Häusern weiter, bis sie den Saloon, in dem der Fremde abgestiegen war, weit hinter sich gelassen hatte. Ihre Mütze hatte sie gegen den Schnee weit in die Stirn gezogen, und so wanderte sie durch den Schnee, aus der Stadt und weiter nach Norden.
Bis zu der Zeltstadt, in der zahlreiche Indianer und Goldsucher den Winter verbrachten, waren es mehrere Meilen. Ein Gewaltmarsch, wie sie schon bald feststellte, weil der Trail schon hier steil bergauf führte, und sich der Schnee außerhalb der Stadt bereits in tiefen Wehen angehäuft hatte. Bei jedem Schritt sank sie tief in den Schnee, und sie merkte schon nach ein paar Schritten, dass sie ohne Schneeschuhe nicht weiterkam. In der Eile hatte sie nicht daran, gedacht, die Wirtin nach Schneeschuhen zu fragen oder welche zu besorgen.
Zum Umkehren war es zu spät. In Skaguay wäre die Gefahr, dem Fremden doch noch in die Arme zu laufen, viel zu groß gewesen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als weite Umwege in Kauf zu nehmen, um die Schneewehen zu umgehen und darauf zu hoffen, dass der Trail weiter nördlich fester und griffiger war. Sie hatte Glück. Nach ungefähr einer Meile, für die sie über zwei Stunden gebraucht hatte, führte der Trail durch eine weite Senke, in der sich der eisige Wind nach Herzenslust austoben konnte, und der vereiste Boden einen festen Untergrund bot. Lästig war nur der kräftige Wind, gegen den sie sich mit aller Macht stemmen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Schon jetzt wurde ihr bewusst, auf welches Wagnis sie sich eingelassen hatte. Selbst wenn sie einen indianischen Führer fand, der bereit war, mit ihr zum Klondike zu fahren, war noch lange nicht sicher, ob sie es bis zu den Goldfeldern schaffen würde. Weniger die Gefahren der Wildnis schreckten sie, die war sie gewöhnt, es war eher die Grenze zwischen dem amerikanischen Territorium und dem kanadischen Yukon-Gebiet, die ihr zu schaffen machte. Sie besaß weder die verlangten Vorräte
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