Clarissa - Wo der Himmel brennt
waren, und abends fand sie vielleicht ein freies Bett in dem großen Schlafraum für Frauen auf dem Zwischendeck. Falls jemand nach ihrem Billett fragte, würde sie behaupten, an Bord gedrängt worden zu sein, und mit einigen Goldkörnern aus ihrem Lederbeutel bezahlen. Mit Gold bezahlten die meisten Passagiere, die schon einmal am Klondike gewesen waren, den Winter im Süden verbracht hatten und jetzt im Frühling wieder zurückkehrten, das war nichts Besonderes. Oder sie wartete, bis das Schiff in einem Hafen anlegte, und kaufte sich dort eins.
Mit klopfendem Herzen kletterte sie aus dem Rettungsboot. Sie schaffte es, ungesehen auf das Oberdeck zu kommen und stieg rasch über den Niedergang auf das Saloondeck hinab. Sie wollte möglichst schnell wieder unter Menschen kommen und in der Masse untertauchen. Leider vergaß sie dabei, wie seltsam sie angezogen war, zumindest für den Geschmack der weiblichen Passagiere. Keine Frau, die einigermaßen etwas auf sich hielt, würde es wagen, an Bord eine Hose zu tragen, schon gar nicht eine schmutzige Wollhose. Und statt ihrer Stiefel trugen die meisten Schnürschuhe und statt der Pelzmütze züchtige Hüte, selbst die Ärmsten der Armen auf dem Zwischendeck. In ihrem Aufzug sah sie eher wie ein Fallensteller aus, der nach einigen Monaten in der Wildnis an Bord gekommen war, und sich schwertat, wieder in die Zivilisation zurückzufinden. Ein Mädchen, das zufällig am Niedergang vorbeikam, als sie hinunterstieg, blieb stehen und starrte sie verwundert an.
Auf einem Schiff wie der S.S. California machte man keine Unterschiede wie auf einem Ozeandampfer, und niemand scherte sich darum, auf welchen Decks sich die Passagiere tagsüber aufhielten. Auch in diesem Frühling waren wieder so viele Menschen nach Alaska unterwegs, dass sie sich sogar verteilen mussten, um sich nicht im Weg zu stehen. Clarissa glaubte, dadurch einen Vorteil zu haben, und mischte sich unter einige schäbiger gekleidete Passagiere aus dem Zwischendeck, fiel aber dort genauso auf. Die wenigen Frauen starrten sie wegen der Hosen an, und die vielen Männer wurden von ihrer weiblichen Erscheinung angezogen, ihrem hübschen Gesicht, ihren ausdrucksvollen Augen und ihrer schlanken Figur, die sie selbst unter ihrer Felljacke und den Wollhosen nicht verbergen konnte. Ein besonders dreister junger Mann pfiff anerkennend durch die Zähne, als er ihr begegnete. Es schien an Bord dieses Dampfers keinen sicheren Platz für sie zu geben.
Noch bevor sie zum Zwischendeck hinabklettern konnte, weil sie hoffte, dort weniger Aufsehen zu erregen, lief sie dem Kapitän in die Arme. Er war genauso überrascht wie die meisten anderen Passagiere und blickte sie forschend an. »Guten Morgen, Ma’am. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie. Sie hoffte, dass Whittler sie nicht so genau beschrieben hatte, dass man sie gleich erkannte. »Bei so vielen Passagieren wäre das auch unwahrscheinlich.« Sie überlegte, ob sie ihm einen falschen Namen nennen sollte, und entschloss sich, gar keinen zu nennen. Ihr Lächeln wirkte bemüht. »Sie wundern sich bestimmt über meine Kleidung.«
»Unter anderem, Ma’am.«
Sie verstärkte ihr Lächeln. »Ich friere sehr leicht, Kapitän, und heute Morgen war es besonders frisch. Ich war schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen und habe in der Eile wohl vergessen, dass ich nicht allein an Bord bin. Wenn ich zu Hause friere, laufe ich auch in diesen Wollhosen rum. Sie sehen nicht besonders gut aus, halten aber warm. Normalerweise würde ich natürlich niemals wagen, in diesem Aufzug … Ein Versehen, Kapitän. Wenn mich die Leute nicht so komisch angesehen hätten, wäre es mir gar nicht aufgefallen. Ich will mir gleich einen Rock anziehen … Sie entschuldigen mich …«
»Dürfte ich mal Ihr Billett sehen, Ma’am?«, fragte er unbeeindruckt.
Clarissa hatte diese Frage befürchtet. »Das habe ich leider nicht bei mir«, begann sie und verbesserte sich nervös. »Das heißt …« Sie errötete gegen ihren Willen. »Auf dem Pier war so ein Gedränge, dass ich nicht dazu kam …« Sie zögerte, erkannte plötzlich, wie unglaubhaft ihre Ausrede klang.
»Ah, da bist du ja, mein Schatz!«, unterbrach sie eine vertraute männliche Stimme. »Ich habe gar nicht mitbekommen, wie du unsere Kabine verlassen hast.«
Aus einer der teuren Kabinen trat ein vornehm gekleideter Gentleman und zündete sich in aller Ruhe einen Zigarillo an. Er trug einen dunklen
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