Clarissa - Wo der Himmel brennt
auf keinen Fall zulassen wollte, dass man ihn auf schäbige Weise hereingelegt und vielleicht sogar verletzt und um ihre ganzen Ersparnisse gebracht hatte. Allein an ihren festen Schritten und ihrer entschlossenen Haltung war zu sehen, welche Wandlung in ihr vorgegangen war.
Ganz ähnlich hatte sich Clarissa in Port Essington verhalten, als sie nach Alex gesucht hatte. Es war schon komisch. Innerhalb weniger Tage suchte sie zum zweiten Mal nach einem verschwundenen Ehemann, nur dass es diesmal nicht ihr eigener war, und die Chance, ihn unverletzt zu finden, sehr viel geringer erschien. Oder machte sie sich etwas vor? Gab es für Alex ebenfalls keine Hoffnung mehr? Würde Mary Redfeather den Brief, den sie an Alex geschrieben hatte, selbst beantworten und ihr mitteilen, dass man ihn tot in der Wildnis oder an der Küste gefunden hatte? War sie schlimmer dran als Dolly, die vielleicht ihre Ersparnisse, aber nicht ihren Mann verloren hatte?
Sie folgte der Engländerin über die Straße und spürte den kalten Nachtwind im Gesicht und an den bloßen Händen. Um besser geschützt zu sein, hielt sie den Mantel am Kragen zu und steckte eine Hand in die Tasche. Als sie den kalten Stahl des Enfield-Revolvers berührte, zuckte ihre Hand unwillkürlich zurück. Sie hatte die Waffe ganz vergessen. Doch gegen Soapy Smith und seine Bande würde sie ihr nichts nützen. Selbst eine starke Frau wie sie, die lange in der Wildnis gelebt hatte und mit einem Revolver umgehen konnte, kam gegen eine organisierte Bande wie die von Soapy Smith nicht an. Am besten war es, sich ruhig zu verhalten, auf Alex zu warten und dann so schnell wie möglich aus der Stadt zu verschwinden. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen, solange Dollys Mann verschwunden war?
Nur wenige Schritte vor dem Büro des US Marshals holte Clarissa die Engländerin ein. Sie packte sie am Ärmel und rief: »Warte doch! Du kannst da nicht rein. Der US Marshal macht gemeinsame Sache mit Soapy Smith.«
»Ein United States Marshal?« Dolly blieb abrupt stehen. In ihren Augen flackerte unverminderter Zorn. »Ein Marshal der amerikanischen Regierung? Aber das ist unmöglich. Dem hätte die Regierung doch längst sein Abzeichen abgenommen, wenn es so wäre. Man hätte ihn vors Bundesgericht gestellt …«
»Alaska ist weit, Dolly. Glaubst du, die Regierung interessiert sich dafür, was in einem unbedeutenden Nest in diesem Territorium geschieht? Solange Alaska kein Staat ist, spielt das doch gar keine Rolle. Hauptsache, der Handel floriert und die Kassen sind voll. Wie früher im Wilden Westen.« Sie erinnerte sich an eine Geschichte aus Buffalo Bill’s Wild West, in der ein rücksichtsloser Rancher eine ganze Stadt ausgenommen hatte. »Sei vernünftig und geh da nicht rein. Tanner hilft dir auf keinen Fall. Im Gegenteil, du kriegst wahrscheinlich eine Menge Ärger, wenn du dich gegen ihn stellst.«
»Ich hab keine Angst. Als US Marshal hat er einen Eid geleistet und sich gefälligst daran zu halten.« Sie riss sich von Clarissa los und marschierte auf die Tür des Marshal-Büros zu. Durch das Fenster des zweistöckigen Gebäudes fiel ein breiter Lichtstreifen nach draußen. Sie klopfte heftig an die Tür.
»Dolly! Das gibt nur Ärger!«
Dolly klopfte noch einmal, diesmal stärker, und rief: »Machen Sie auf, Marshal! Hier ist Dolly Kinkaid. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«
Die Tür öffnete sich knarrend, und die Gestalt eines halbwüchsigen Jungen wurde im Schein einer Öllampe sichtbar. Er rieb sich verschlafen die Augen und fragte: »Was gibt’s denn, Ma’am? Kann das nicht bis morgen warten?«
»Den Teufel kann es, bloody idiot!« In ihrer Aufregung war Dolly in ihren britischen Dialekt verfallen, der dem Jungen nur ein Stirnrunzeln entlockte.
Die Engländerin drängte sich an ihm vorbei in das beheizte Büro, gefolgt von Clarissa, die keine Möglichkeit mehr sah, Dolly aufzuhalten. Sie schloss die Tür und hielt ihre Hände über den bullernden Ofen. Dolly war so aufgeregt, dass ihr der kalte Nachtwind nichts ausgemacht hatte. »Wo ist der Marshal? Ich muss unbedingt mit ihm sprechen! Wer bist du überhaupt?«
Der Junge, keine vierzehn und sichtlich verwirrt, zog seine Hosenträger über die Schultern. Anscheinend hatte er fest geschlafen. »Ich bin Matt«, erwiderte er. Er fühlte sich sichtlich unwohl in der Gesellschaft von zwei Frauen. »Marshal Tanner ist mein Onkel. Ich soll hier die Stellung halten, solange er schläft. Warum kommen Sie nicht
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