Clarissa - Wo der Himmel brennt
morgen früh wieder, wenn er wach ist?«
»Weil die Sache dringend ist. Wo wohnt dein Onkel?
»Im ersten Stock.«
»Dann weck ihn gefälligst! Er soll sofort runterkommen!«
»Das geht nicht, Ma’am.« Der Junge machte keinen besonders glücklichen Eindruck. »Ich soll ihn nur wecken, wenn es irgendwo brennt … Das hat er gesagt, Ma’am. Nicht mal, wenn es eine Schießerei gibt, darf ich ihn stören.«
»Das hat er gesagt?« Dolly funkelte den Jungen wütend an. Clarissa merkte an ihrer übertrieben forschen und ungeduldigen Art, wie besorgt sie um ihren Mann war. »Mein Mann ist verschwunden, du ungezogener Bengel, und wenn du nicht gleich deine Beine bewegst und deinen Onkel weckst, erlebst du was!«
Der Junge weinte fast, anscheinend hatte er große Angst. »Ich kann nicht, Ma’am. Sie kennen meinen Onkel nicht. Wenn dem was gegen den Strich geht, stellt er sonst was an. Vor ein paar Tagen hat er mich mit seinem Gürtel verprügelt, weil ich den Kaffee zu spät aufgesetzt hatte.«
»Auch gut«, erwiderte Dolly, »dann wecke ich ihn eben selbst!« Sie schob den Jungen zur Seite und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, dicht gefolgt von Clarissa, die vergeblich versuchte, sie zurückzuhalten. Die morsche Treppe knarrte und ächzte unter jedem ihrer Schritte. »Marshal Tanner!«, rief Dolly. »Wachen Sie auf, Marshal! Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!«
Sie öffnete die falsche Tür, versuchte es mit der nächsten und sah den Marshal entsetzt in seinem Bett hochfahren. In einem feinen Anzug und mit sorgfältig gekämmten Haaren war er bestimmt ein stattlicher Mann, in seinem gemusterten Nachthemd und aus dem Tiefschlaf gerissen, sah er eher wie eine Witzfigur aus. Er starrte seinen nächtlichen Besuch aus schreckgeweiteten Augen an und zog seine Decke bis zum Kinn hinauf, als er erkannte, dass es sich um zwei Frauen handelte. »Was … Was hat das zu … zu bedeuten?«
»Deputy US Marshal Tanner?«, fragte Dolly. Ihre Stimme klang fest.
Der Marshal kam langsam zu sich und blickte die Engländerin wütend an. Man sah deutlich, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Ganz recht, Ma’am. Und Sie haben besser einen triftigen Grund, um mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen. Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Ihr Mann verschwunden ist! Das höre ich nämlich jeden Tag mindestens zwanzig Mal.«
»Genau so ist es aber«, erwiderte Dolly. Sie schilderte in wenigen Worten, was passiert war, und schloss: »Und wenn Sie Ihr Abzeichen zu Recht tragen und Ihren Eid ernst nehmen, ziehen Sie sich jetzt was über und helfen mir, ihn zu suchen. Reverend Ike, derselbe Pastor, der uns auf dem Schiff getraut hat, soll ein falscher Fuffziger sein und mit diesem Verbrecherkönig, diesem Soapy Smith, unter einer Decke stecken, und es sieht ganz so aus, als hätte er ihn in eine Falle gelockt und ihm unsere Ersparnisse abgenommen. Ich wage gar nicht daran zu denken, was noch passiert sein könnte. Helfen Sie mir, meinen Mann zu finden, Marshal, und legen Sie diesem falschen Pastor das Handwerk! Wenn er der Schurke ist, für den ihn die meisten Leute in dieser Stadt halten, gehört er ins Gefängnis! Worauf warten Sie noch, Marshal?«
Clarissa hielt unwillkürlich den Atem an. So respektlos hatte sicher noch keiner mit dem Marshal gesprochen, schon gar nicht eine Frau, und es hätte sie nicht gewundert, wenn Tanner aus der Haut gefahren wäre und die Engländerin scharf zurechtgewiesen hätte. Doch ihre Worte hatten ihn anscheinend so beeindruckt, dass er eine Weile schwieg und erst dann antwortete: »Reverend Ike ist kein Betrüger. Wenn jemand so etwas behauptet, ist er ein Lügner. Er mag kein Pastor sein, wie Sie ihn aus Vancouver oder Port Essington kennen …« Die Erwähnung der Stadt, aus der sie kam, und in der sich vielleicht noch ihr Mann aufhielt, ließ Clarissa erschaudern, aber der Name war anscheinend nur zufällig gefallen, denn er würdigte sie keines einzigen Blickes. »… Aber er ist ein absolut honoriger Mann. Glauben Sie nicht alles, was Ihnen die Männer in Skaguay erzählen, das Gold verdreht vielen den Kopf hier.«
Dolly ließ sich nicht beirren. »Ich weiß nur, dass Reverend Ike meinen Mann zu einem besonders günstigen Ausrüster führen wollte. Das war gestern Abend, und bis jetzt habe ich keinen von beiden mehr gesehen, weder meinen Mann noch diesen … diesen Pastor. Und jetzt steigen Sie endlich aus Ihrem Bett und helfen Sie uns, meinen Mann zu suchen, oder wollen Sie das
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