Clarissa
»Besorg mir Wein, hast du gehört? « fuhr er sie an. »Und dann hole Feder und Papier! «
Der Brief, den Raine ihr für seinen Bruder diktierte, war voller Zorn und Rachegelüste. Er schwor, daß er Roger Chatworth töten würde, und wenn Gavin ihm nicht dabei hülfe, würde er es allein tun.
Clarissa fügte ihre eigene Botschaft als Fußnote hinzu, beschwor Gavin, Raine zur Vernunft zu bringen, da er sonst bereit wäre, es mit Chatworth’ Lehnsmännern ganz allein aufzunehmen. Sie versiegelte den Brief und fragte sich, was der große Lord Gavin wohl von ihrer Anmaßung halten würde.
Es dauerte zwei Tage, bis die Antwort kam. Der Bote war fast tot von dem Gewaltritt und fiel Clarissa buchstäblich in die Arme. Mit zitternden Händen erbrach sie das Siegel.
König Heinrich war wütend über die Montgomerys und die Chatworths. Er hatte eine schwere Geldbuße gegen Roger Chatworth verhängt und den Bann gegen Raine, den Verräter, erneuert. Er wollte, daß beide Edelleute England verließen, und tat alles, was in seiner Macht stand, um seinen Willen durchzusetzen. Er zürnte Raine, weil er sich in England versteckte, und bei Hof ging das Gerücht um, daß Raine eine Armee aushob, um gegen den König zu streiten.
Mit angsterfüllten Augen sah Clarissa zu Raine hoch. »Du würdest doch so etwas nicht tun, nicht wahr? « flüsterte sie.
»Die Sorgen des Menschen wachsen mit dem Alter«, sagte Raine wegwerfend. »Wer kann aus diesem Abschaum eine Armee machen? «
»Das ist der Beweis, daß du in deinem Versteck bleiben mußt. Dein Bruder schreibt, König Heinrich würde nur zu gerne an dir ein Exempel statuieren, was mit den anderen Edelleuten geschähe, die nicht glauben, daß er der mächtige Mann im Land ist. «
»Gavin sorgt sich, daß er seinen Besitz verlieren könnte«, sagte Raine verächtlich. »Mein Bruder schätzt das Land höher als die Ehre. Er hat schon den Tod unserer Schwester vergessen. «
»Er hat nichts vergessen! « schrie Clarissa ihn an. »Er ist sich bewußt, daß seine Familie nicht nur aus ihm besteht. Würde es dich glücklicher machen, wenn er dich in den Tod schickte? Er hat vor noch nicht langer Zeit sein ungeborenes Kind verloren, dann seine einzige Schwester, und die Frau seines Bruders wird vermißt. Soll er dich jetzt dazu ermuntern, daß du dein Leben für so etwas Dummes wie Rache wegwerfen solltest? «
»Für das Leben meiner Schwester! « schrie er zurück. »Erwartest du von mir, daß ich stillhalte nach allem, was mir angetan wurde? Kann man einem Vertreter deines Standes nicht begreiflich machen, was Ehre bedeutet? «
»Mein Stand! « fauchte sie ihn an. »Glaubst du, daß du dank deiner hohen Geburt der einzige bist, der Gefühle hat? In einer Nacht schnitt ein Vertreter deines Standes meinem Vater die Kehle durch und brannte mein Haus nieder. Und als wäre das nicht genug, ließ er mich öffentlich zur Hexe erklären. Und das alles nur, weil ein Mann seine Lust stillen wollte. Nun rede du mir von Rache und frage mich, ob ich das begreife. Ich kann diesen Wald nicht verlassen, weil ich um mein Leben fürchte. «
»Clarissa«, begann er.
»Rühr mich nicht an! « schrie sie. »Du mit deiner überlegenen Lebensart. Du verspottest uns, weil wir uns Sorgen machen, wie wir zu Geld kommen; aber was haben wir denn sonst? Wir kratzen unser ganzes Leben lang die Pfennige zusammen und geben euch einen großen Teil unserer Einnahmen ab, um euch und eure feinen Häuser zu unterhalten, damit euch Muße bleibt, eure Ehre zu pflegen und Rache zu üben. Wenn du nicht weißt, wo du deine nächste Mahlzeit hernehmen sollst, wirst du wahrscheinlich weniger Zeit haben, von Ehre zu reden. «
»Du verstehst mich nicht«, sagte er mit Verdruß.
»Ich verstehe dich vollkommen, und das weißt du sehr genau«, sagte sie, ehe sie das Zelt verließ.
Kapitel 10
Es dauerte viele Stunden, ehe Clarissa sich beruhigte. Sie saß allein am Fluß. Vielleicht haßte sie Raine zu Recht, weil er zum Adel gehörte. Es gab Barrieren zwischen ihnen, die nie fallen würden. Alles, an das er glaubte, war das Gegenteil dessen, was sie als richtig erkannte. Ihr Leben lang hatte sie sich plagen müssen, hatte nur Arbeit gekannt neben ihrer Musik. Da war immer die Sorge gewesen, daß sie nicht genug zu Essen haben würden. So manchen Winter hätten sie hungern müssen, wenn der Priester nicht gewesen wäre. Manchmal klagte Raine über die Verpflegung im Lager; doch tatsächlich hatte sie in ihrem ganzen Leben
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