Clarissa
Sie hatte ein Gefühl, als habe sie einen Zipfel des Paradieses gesehen, und den konnte sie gerade noch aushalten.
Die Nacht verbrachten sie in einem Gasthof, und Clarissa empfand nun die Art, wie sie gekleidet war, als peinlich. Ihre Sorge war unbegründet. Der Gastwirt warf einen einzigen Blick auf Raine und die zwanzig Männer seines Gefolges in ihren kostbaren grün-goldenen Gewändern und bot sich buchstäblich als Teppich für ihre Füße an. Ein Essen, wie es Clarissa noch nie zuvor gesehen hatte, wurde aufgetragen in einer Fülle, daß es ihr den Atem verschlug.
»Dürfen sie sich zu dir setzen? « fragte Raine.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß er sie um Erlaubnis fragte, ob diese herrlichen Männer mit ihr an demselben langen Eichentisch sitzen durften. Mit einem breiten Lächeln deutete sie an, daß sie auf den Stühlen Platz nehmen sollten.
Die Tischmanieren der Ritter waren so gut, daß Clarissa mit ihrem eigenen Tafelgerät überaus vorsichtig umging. Während der Mahlzeit boten ihr die Ritter besonders saftige Stücke von Fleisch und Früchten an. Ein Mann schälte einen Apfel für sie, legte ein Stück auf einen Teller und fragte, ob ihr die Frucht auch munde.
Sie drückten ihre Anteilnahme aus, weil sie ihre Stimme verloren habe, was Raine zu einem Lachen reizte und zu der Bemerkung veranlaßte, sie würden mehr vermissen, als sie ahnten. Er sagte, sie würden nicht glauben, was er ihnen erzählte, worauf Clarissa errötete.
In ihrem Zimmer stand ein großes, weiches Bett mit schneeweißem Linnen, und Clarissa machte es sich sofort unter der leichten Decke bequem. Binnen Sekunden hatte Raine sich ihr beigesellt, zog sie dicht an sich, während sein Hände ihren Leib liebkosten und er lächelnd den Mund auseinanderzog, als das Baby hüpfte.
»Stark«, murmelte er mit schläfriger Stimme. »Ein gutes, starkes Kind. «
Morgens klopfte der Wirt an ihre Tür und trug frischgebackenes Brot und heißen Wein auf, dazu zwanzig rote Rosen, die von Gavins Rittern stammten.
»Das ist Judiths Werk«, sagte Raine, der sich gerade ankleidete. »Sie sind alle halb verliebt in sie, und mir scheint, du hast ebenfalls ihre Herzen erobert. «
Clarissa schüttelte den Kopf und deutete an, daß sie ihr nur diese Aufmerksamkeit erwiesen, weil sie nun zur Familie gehörte.
Er küßte ihre Nasenspitze. »Vielleicht verlieben sich alle Männer in Frauen, die nicht sprechen können. «
Clarissa packte ein Kissen und warf es ihm an den Kopf.
»Ist das die Aufmerksamkeit einer Lady für ihren Mann? « neckte er sie.
Trotz der launigen Art, in der er das gesagt hatte, brütete Clarissa den ganzen Tag über seine Worte. Sie war keine Lady und wußte nicht, wie man sich als solche verhalten sollte. Wie konnte sie es überhaupt wagen, diesem Ausbund von Tugend, Judith Montgomery, in dieser rußigen, versengten, formlosen Kleidung von Sack unter die Augen zu treten? «
»Clarissa, was fehlt dir? Sind das Tränen, die ich sehe? « fragte Raine neben ihr.
Sie versuchte zu lächeln und deutete an, ihr wäre etwas ins Auge geflogen, und sie würde sich gleich wieder davon erholen. Danach suchte sie sich besser im Zaum zu halten; aber als sie in Sichtweite der Montgomery-Burg waren, war sie bereit, ihr Pferd zu wenden und zu flüchten.
Diese Jahrhunderte alte massive Festung aus Felssteinen sah noch viel furchtgebietender aus, als sie sich vorgestellt hatte. Während sie näher ritten, schienen die alten Steinmauern sie förmlich zu erdrücken.
Raine führte sie zum Hintereingang, da er seine Ankunft so geheim wie möglich halten wollte. Der Pfad zum Hintertor war von hohen Steinmauern gesäumt, und als sie zwischen ihnen ritten, riefen Männer von der Brüstung Raine ein freudiges Willkommen zu. Er schien so vertraut mit diesen Leuten, daß der Mann, den sie kannte, ihr plötzlich sehr entrückt vorkam. Die Männer, die ihm prompt gehorchten, die mächtige Ausdehnung dieser Burganlage, stand dem Charakter dieses Mannes viel näher als das Lager der Geächteten mit seinen wackeligen Behausungen.
Sie ritten in den Burghof, und zu Clarissas Verwunderung fand sie dort behaglich aussehende Gebäude mit vielen Fenstern vor. In den wenigen Schlössern, wo sie und Jocelin gesungen hatten, wohnten die Leute noch in den Türmen, die als Wohnung so unbequem waren, daß die meisten Schlösser inzwischen aufgegeben worden waren.
Kaum hatten sie angehalten, als aus einem kleinen umfriedeten Garten eine atemberaubend
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