Clark Mary Higgins
denn
den Dolly Sisters? Benehmen die Jungs sich euch gegenüber
auch anständig?«
Ruth hatte frischen Orangensaft gepreßt, Speck mit Rührei,
Toast und Kaffee gemacht. Sie wartete, bis Seamus fertig war
mit essen und sie ihm Kaffee nachgeschenkt hatte. Dann setzte
sie sich ihm gegenüber an den schweren Eichentisch und begann: »Wir müssen miteinander reden.«
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände
unterm Kinn. In dem fleckigen Spiegel über dem Geschirrbuffet
sah sie ihr Bild und wurde sich auf einmal ihrer trübseligen Erscheinung bewußt. Ihr Morgenrock war verwaschen, ihr früher
so schönes hellbraunes Haar strähnig und glanzlos; die runden
Brillengläser gaben ihrem schmalen Gesicht etwas Verbissenes.
Sie verdrängte diese Gedanken als unwichtig und fuhr fort, auf
Seamus einzureden. »Als du mir sagtest, du habest Ethel einen
Faustschlag versetzt, der Brieföffner habe ihr ins Kinn geschnitten, und du hättest jemand dafür bezahlt, sie zu bedrohen, glaubte ich, du seist noch einen Schritt weiter gegangen. Ich glaubte,
du hättest sie umgebracht.«
Seamus stierte in seine Kaffeetasse. Man könnte meinen, sie
enthalte alle Geheimnisse dieser Welt, dachte Ruth. Dann richtete er sich auf und blickte ihr fest in die Augen. Es sah aus, als
hätten eine durchgeschlafene Nacht, das Gespräch mit seinen
Töchtern und das reichliche Frühstück ihn wieder zu sich gebracht. »Ich habe Ethel nicht getötet«, sagte er. »Ich habe ihr
Angst eingejagt. Und ich habe es, weiß Gott, selbst mit der
Angst zu tun gekriegt. Ich hatte nie die Absicht, sie zu schlagen;
das geschah wahrscheinlich instinktiv. Sie schnitt sich in die
Backe, weil sie den Brieföffner packte und ich ihn ihr entriß und
dann zurück auf den Schreibtisch warf. Sie hatte panische
Angst. Und da sagte sie: ›Also gut, du kannst deine verfluchten
Alimente behalten! ‹«
»Das war am Donnerstag nachmittag«, sagte Ruth.
»Donnerstag ungefähr um zwei Uhr. Du weißt, wie ruhig es
um diese Zeit im Lokal wird. Du weißt auch, in was für einem
Zustand du wegen des ungedeckten Schecks warst. Ich ging um
halb zwei aus der Bar weg. Dan war da, er kann meine Aussage
bestätigen.«
»Bist du noch in die Bar zurückgekehrt?«
Seamus trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse zurück
auf den Unterteller. »Ja, das mußte ich. Danach kam ich nach
Hause und betrank mich. Und ich blieb das ganze Wochenende
betrunken.«
»Bist du rausgegangen, um eine Zeitung zu kaufen?«
Seamus lächelte, ein leeres, trauriges Lächeln. »Ich war gar
nicht im Stande zu lesen.« Er wartete auf ihre Reaktion, und
Ruth sah einen Hoffnungsschimmer auf seinem Gesicht. »Du
glaubst mir also«, sagte er in demütigem, überraschtem Ton.
»Gestern und am Freitag habe ich dir nicht geglaubt«, sagte
Ruth. »Doch jetzt glaube ich dir. Du hast viele Eigenschaften,
gute und schlechte, aber ich weiß, daß du nie ein Messer oder
einen Brieföffner in die Hand nehmen und jemand die Kehle
durchschneiden könntest.«
»Das Große Los hast du kaum mit mir gezogen«, sagte Seamus ganz ruhig.
Ruths Ton wurde lebhaft. »Ich hätte eine schlechtere Wahl
treffen können. Aber jetzt laß uns überlegen, was wir tun können. Mir ist der Anwalt nicht sympathisch; er hat auch zugegeben, daß du einen andern brauchst. Ich möchte etwas versuchen.
Zum letzten Mal: Bitte schwör mir bei deinem Leben, daß du
Ethel nicht getötet hast.«
»Ich schwöre es bei meinem Leben.« Seamus zögerte. »Beim
Leben meiner drei Töchter.«
»Wir brauchen Hilfe. Wirkliche Hilfe. Ich habe gestern
abend die Nachrichten angesehen. Da war die Rede von dir.
Daß du verhört worden bist. Sie wollen möglichst rasch beweisen, daß du es getan hast. Wir müssen unbedingt jemand die
ganze Wahrheit erzählen, jemand, der uns einen Rat geben
kann, was wir tun sollen, oder uns zum richtigen Rechtsanwalt
schickt.«
Ruth redete den ganzen Nachmittag auf Seamus ein, argumentierte, debattierte, bewies und erörterte, bis er schließlich einwilligte. Es war halb fünf, als sie ihre Mäntel anzogen und die drei
Straßen weit bis zum »Schwab House« gingen. Sie sprachen
wenig unterwegs. Obwohl die Luft ungewöhnlich frisch für die
Jahreszeit war, genossen die Leute, daß die Sonne schien. Beim
Anblick der kleinen Kinder mit Luftballons, denen erschöpft
aussehende Eltern folgten, mußte Seamus lächeln. »Weißt du
noch, wie wir mit unseren Mädchen am
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