Claustria (German Edition)
antworten, indem sie mit den Fingerspitzen an die Latten klopfte. Diesen Morsecode des Jenseits nutzen Geister, um die Toten zu fragen, in welchem Nirwana sie ihre Hütte gebaut haben …
Vor Erschöpfung fiel Angelikas Kopf auf den Tisch. Petra verschwand. In ihrem Inneren ein dunkler Bereich ohne Erinnerungen, ihr Bewusstsein auf Stand-by, nur ein leichter Schmerz, eine Beklemmung, ein Juckreiz. Es war kaum mehr als Leere, ohne Obdach, die Schädeldecke darum herum, der Keller, draußen der Himmel. Selbstaufgabe, sie machte sich nicht mehr die Mühe, zu leiden, zu fürchten, zu hoffen. Eine traurige Ekstase.
Montag. Ein Wort, eine Explosion. Angelika steht wieder auf. Vielleicht ist schon Montag. Sie hat noch Sekunden, Minuten, und selbst wenn sie seine Schritte im Labyrinth hören sollte, hätte sie noch einen Augenblick, bis er hier wäre. Wenn die Nadel der Skala noch nicht ganz oben ist, ist noch Zeit, sie kann sich Zeit lassen.
Die Zeit. Wenn man geschickt genug ist, sie zu fangen, kann man sie in der hohlen Hand schlagen hören. Angelika hörte nichts, Stille im Labyrinth, der trockene Hals dieser vergrabenen Flasche, die statt einer Elfe, statt eines Geistes eine vergessene Frau einschloss.
,,Ich habe noch Zeit.“
Petra wird aus dem Schlaf, aus der Wiege gerissen, ist wieder im Arm der Mutter. Angelika wankt, tanzt, lässt die Stimme ansteigen, um die Noten einzufangen. Ausgelassen hätte sie Petra gern auf den Boden gestellt, sie bei der Hand genommen und mit ihr im Reigen getanzt. An dieses Fest, diese Feier, diese Fete, dieses lodernde Leben, das den Keller in gleißendes Licht tauchte und die Wände einstürzen ließ, würden die beiden sich ihr Leben lang erinnern.
Man bewohnt immer einen geschlossenen Raum, man läuft nie weit. Autos folgen den Straßen, Züge den Gleisen, Flugzeuge und Raketen erreichen nie die Unendlichkeit. Irgendwo schlägt man sich immer an. Zu zweit ist man schon zu mehreren, man muss es nur wollen, und dann ist man glücklicher als eine jubelnde Menge.
Die Nacht bricht herein. Kein Strom mehr, als wolle Fritzl das Glück bestrafen. Angelika erstarrt, verstummt. Petra weint noch, dann schläft sie im Arm der Mutter ein. Angelika steht im Dunkeln reglos da wie eine Statue mit Kind.
Im Dunkeln ist die Zeit lang, sagt sie sich. Man kann immer hoffen, dass der Tag niemals anbricht. Eine Nacht kann ein ganzes Leben dauern, manche Nachtfalter lernen nie das Tageslicht kennen. Dunkelheit und Kälte machen Leichen ewig. Kein Tod – Winterschlaf, Verlangsamung, man hört das Herz nicht mehr schlagen, das Blut zirkuliert ohne Eile in den Arterien, den Venen, leicht wie ein Schatten und langsam wie der Mond. Eine Statue aus Fleisch mit angespannten Muskeln, hart wie ein Skelett.
Trotz allem eine Tropfinfusion. Die Zeit scheint um sie herum zu regnen, die Pfützen sind schnell verdampft. Jetzt geht Angelika ruhig auf und ab. Sie findet, dieser Montag lässt schon zu lange auf sich warten, er hat wohl beschlossen, seinen Einsatz zu verpassen. Angelika ist zu Hause, zieht ihre Bahn an diesem Ort, der ihr zugeteilt ist. Eine Wohnung ohne Luft, ohne Sicht, in der sie bei Fritzls Abwesenheit manchmal ein Gefühl von Freiheit verspüren kann.
Sie kennt den Keller blind. Sie geht dicht an den Wänden entlang, weicht Hindernissen aus, geht geradewegs zur Spüle, um zu trinken. Der Tanz hat sie durstig gemacht, sie füllt ihren Magen wie einen Schlauch. Es gibt einen Rest Ragout, sie verschlingt ihn im Stehen vor der ausgeschalteten Kochplatte direkt aus dem Topf bis zum letzten Stück Fleisch. Dann putzt sie den Topfboden mit Brotstücken aus. Sie spült und scheuert ihn, dann stellt sie ihn zum Trocknen auf das Abtropfgestell. Sie wischt den Tisch mit dem Schwamm ab, reibt ihn mit einem Tuch trocken. Angelika weiß, dass er glänzen wird, wenn das Licht wiederkommt.
Petra wacht auf, sie ist nass. Angelika wickelt sie blind auf dem Bett. Sie wird die Wäsche gleich in der Badewanne einweichen. Petra weint immer noch. Angelika macht ihr das Fläschchen, schüttelt es wie einen Shaker, um das Milchpulver aufzulösen. Sie klemmt es zwischen ihre Schenkel, um es aufzuwärmen. Die Kleine schreit lauter, das Fläschchen ist gerade mal lauwarm, als sie Petra den Sauger in den Mund schiebt.
Ein herrliches Gefühl, das zwei Menschen teilen. Die verabreichte Nahrung wird gierig aufgenommen. Warten auf den kleinen Rülpser, dann schläft die Kleine satt und mit einem zufriedenen Ausdruck wieder
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