Claustria (German Edition)
Packung Zwieback versteckt hatte.
Angelika erwischte sie. Beide mussten vor der Stahlbetontür knien – so könnten sie Buße tun und sich vielleicht auch Gedanken über das Nichts machen, nachdem Angelika ihnen immer erzählt hatte, dass der Keller alles sei und das Draußen nichts.
,,Und die Leute im Fernsehen?“
,,Die sind im Fernsehen, das Antennenkabel führt nirgendwohin.“
,,Und Papa?“
,,Er stellt hinter der Tür die Lebensmittel her.“
,,Man hört gar nichts.“
,,Erwachsene machen keinen Lärm.“
,,Wieso?“
Um jeder Diskussion aus dem Weg zu gehen, antwortete Angelika ihnen nicht. Ein Geheimnis kann man nicht widerlegen.
Der Traum störte die Kindererziehung. Sie untersagte ihnen, fernzusehen. Sie mussten den Teller auswendig lernen, Tisch, Sessel, Kühlschrank, Spülstein schildern. Unzählige Merkmale, runde, viereckige, spitze Teile, und die Verkleidung der Waschmaschine, die mit ihrem körnigen Emailleüberzug auf dem Metall – hart wie eine Stahlbetontür – glatt war, ohne eben zu sein.
Sie mussten diese Welt malen. Die Lattendecke mit ihren Nuten, der Maserung der Bretter, gesägt aus den Plastikbaumstämmen des Hains, der vor ihrer Zeit in diesem Keller gewachsen war, und den kleinen Löchern, durch die mitunter eine Ratte fiel, die sich aus der Kanalisation von Amstetten hierher verirrt hatte.
Der weiß geflieste Küchenboden mit seinen Kratzern, den Flachpunkten, den winzigen Vertiefungen. Wenn sie ganz genau hinsahen und ihren Kopf darauf legten wie auf einen Polster, sahen sie die Oberfläche eines schillernden Planeten. Ausgetrocknete Krater, die sich beim Putzen mit Wasser füllten. All diese Rinnsale, Pfützen, die kleinen braunen Meere und die Sintflut, wenn Angelika einen Kübel klaren Wassers auskippte. Die Tropfen, die vom Putztuch fielen und sich auf dem Boden hielten wie Hügelchen, die langsam verdampften.
Ganze Tage konnten sie direkt am Boden reisen. Kriechende Forscher mit Netzhäuten wie Fotoplatten, die ihr Gedächtnis mit Bildern füllten, so präzise wie vermessungstechnische Erhebungen. Eine peinlich genaue Topografie, vielleicht zu üppig, um zur Gänze archiviert zu werden.
Die moosige, grünliche Flora, die sie unter den Randleisten zu entdecken meinten. Winzige Ameisen aus dem Garten, die ihren Ausflug bereuten, wenn sie im Putzwasser ertranken oder in Chlorbleiche verätzten. Spinnen: lustige Kamele, die sich verlaufen hatten und manchmal diese Wüste durchquerten, bevor sie die Wände hochkletterten, in einer Ecke ihr Netz woben und in Ermangelung von Beute verhungerten. Eine Fauna mit ausgefallenem Radar, die sich in diesen ungastlichen Landstrich verirrt hatte. Eine regengepeitschte Mondwüste mit ungesunder Atmosphäre.
Unzählige Welten. Die Berge auf zerknitterten Laken, der Erdenschlund, in dem das Badewasser strudelnd und voller Haare, fein wie Grashalme, versank. Die Schränke, in die man, wenn man noch nicht so groß war, klettern und darin lange Spaziergänge sowie Bergwanderungen unternehmen konnte. Und die Nacht, die wie in den Tropen schlagartig hereinbrach, wenn die Türen zuschlugen.
,,Und die Wände? Kennt ihr die Wände?“
Die Kinder tasteten sie mit den Fingerspitzen vorsichtig ab, um sie zu entziffern wie Braille. Sie horchten daran, und wenn ihnen die Ohren rauschten, versuchten sie, sich vorzustellen, was sie ihnen wohl sagen wollten. Ihre Nase mühte sich wie die eines Kellermeisters, den Geruch der Wände aufzunehmen, um ihn im Kopf in seine Grundbestandteile zu zerlegen und sein Alphabet zu entschlüsseln.
Es gelang ihnen nicht, Angelika die Früchte ihrer Forschungsarbeit wiederzugeben. Nur wenige Worte kamen aus ihrem Mund wie Schluckauf. Alberne Sätze, kleine Züge aus Wörtern, die mangels einer Lokomotive nie den Bahnhof verließen.
,,Ihr seid kleine Esel und stur wie Maultiere!“
Angelika versuchte, ihnen die unendlich vielen Risse nahezubringen, die rundlichen Konturen der Wandfarbe in einer Ecke ihres Zimmers, die überwältigende Schönheit der Bettfüße. Und Petras kleine Stoffpuppe, deren Nähte, Sommersprossen und Wollhaare das Kind nicht im Einzelnen darstellen konnte.
,,Ich kann dich von Kopf bis Fuß schildern.“
Angelika zählte alles auf, ein Gewirr aus Gliedmaßen, Organen, Leberflecken, Narben, Schrammen, Blutergüssen und sogar den Nagelmonden, denen sie jeweils Namen gab wie ein Astronom den Gestirnen.
,,Deinen Kopf? Kennst du deinen Kopf?“
Angelika erzählte ihrer Tochter vom Gehirn,
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