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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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dieser grauen Masse, durch die sie ihr Leben lang waten und darin untergehen würde.
    ,,Das Leben ist kein Zuckerschlecken.“
    Die Kleine sah ihre Mutter an, die vor ihr stand. Sie kam ihr zu groß vor, um sich zu irren.
    ,,Wenn du die Augen zumachst und dich in deinen Kopf versetzt, könntest du endlich deine Einzelteile aufsammeln.“
    ,,Meine Einzelteile?“
    ,,Überall sind Teile, man muss sie auswendig lernen. Hier gibt es nur Teile. Wir sind Teilchen, die sich in einem Teil bewegen, in dem wiederum Teile bewegt werden. Wenn du alle Teile beisammen hast, bist du kein kleines, unordentliches Mädchen mehr.“
    Petra weinte. Martin hatte begriffen.
    ,,Ich weiß alles, Mama, ich weiß alles!“
    ,,Dann sag es auf.“
    Da weinte auch er.
    ,,Wir leben in einem Teil und sind Teilchen eines Teils.“
    Angelika schrie auf. Sie war im Inneren aufgestapelt, und nun wollte alles zusammenfallen. Die Wirklichkeit war ein Irrsinn, und in ihr spiegelte sich so viel anderer Irrsinn wider, wie sich in einem Spiegelkabinett Welten mischten wie Flüssigkeiten. Sie schwamm nicht und sie floss auch nicht. Eine verwaschene Farbe auf der Suche nach ihren Pigmenten.

Fritzl öffnete die Tür. Angelika lag auf dem Bett. Ein Körper und sein Bewusstsein, das sie auf den Boden tropfen hörte. Wenn der Sommer käme, würde sie sich verflüchtigen – durch die Deckenlatten und durch die trockene Erde hindurch. Niemand würde sie zum Himmel aufsteigen sehen. Eine Wolke, die davonstob, um sich nicht in ein Gewitter einreihen zu müssen.
    Zur Strafe für ihre Unwissenheit mussten die Kinder in der Speisekammer knien. Fritzl ging vorbei, ohne sie zu sehen. Angelika hörte, wie er mit dem Taschenmesser einen Karton zerschnitt. Er kam ins Schlafzimmer. Angelika schlug ihre glasigen, starren Augen auf. Er stellte den Fernsehapparat auf dem Boden ab. Auf einen kleinen Tisch setzte er einen Videorekorder, dann darauf den Fernseher. Er verband beide mit einem Kabel und steckte das Gerät ein. Ein Kontrolllämpchen blinkte. Er schob eine Kassette hinein.
    Auf dem Bildschirm leckten sich nackte Körper wie Lutscher. Harte Glieder in Mündern, in offenen, schwammigen Schößen, sie bewegten sich hinein und hinaus wie Besoffene, die sich nicht ganz sicher sind, ob sie nach Hause gefunden haben. Spritzer, wenn sie beschlossen, hinauszugehen und in den Himmel zu blicken und hofften, den Stern zu entdecken, unter dem ihr Zuhause war.
    Kriegslärm. Schreie pfiffen vorbei wie Granaten. Das Gebrüll der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden. Eine verlorene Schlacht, weißes Blut schoss aus Kanonenläufen und Wunden.
    An jenem Abend benutzte Fritzl Angelika wie eine Gliederpuppe und versuchte, die überkreuzten Stellungen nachzuahmen, die die Darsteller ausführten. Er beneidete sie, weil sie so viele waren, und es ärgerte ihn, dass er sie nicht mit seinen genitalen Leistungen demütigen konnte.
    Die Kinder kamen herein. Sie sahen das Bett an. Sie hörten das Stöhnen des Vaters, das Wimmern der Mutter und den Ton des Films, in dem Leute den Lärm der beiden nachstellten.
    Fritzl hatte ein Abonnement gekauft, eine Karte, die er in den Schlitz des Automaten steckte, der auf dem Parkplatz des Supermarktes stand und mit einem Glaskasten vor den Unbilden der Witterung geschützt war. Er lieh mehrere Kassetten pro Woche aus und kaufte auch welche in den Sexshops von Linz.
    Jeder Film stellte für ihn eine Herausforderung dar, eine Provokation. Er stürzte sich in einen erbitterten Kampf, ein zähes Gefecht, um die Hochleistungen zu übertreffen, die wie Fehdehandschuhe auf den Bildschirm geworfen wurden. Selbst aus dem kleinsten Scharmützel wollte er unbedingt als Sieger hervorgehen. Angelika war sein Ross und sein Sparringspartner, sie musste Schmerzen ertragen und Schläge einstecken, ohne sie jemals zurückzugeben.
    Aber ein Paar ist gegenüber einem ganzen Trupp Herumhurender im Nachteil. Oft träumte Fritzl davon, ein paar Nutten zu holen und sie mit verbundenen Augen in den Keller zu führen. Einen zusätzlichen Mann bräuchte man nicht, er allein wäre der Hahn im Korb.
    Er hatte sogar schon Verhandlungen mit einem Mädchen vom Amstettener Puff aufgenommen.
    ,,Ein Mal habe ich zu so etwas Ja gesagt. Eine Stunde Fahrt, ohne dass ich etwas gesehen habe. Als man mir dann die Augenbinde wieder abgenommen hat, waren da vier Männer im Rittersaal eines Schlosses. Ich habe das Geld zurückgegeben und mich wieder zurückfahren lassen.“
    Er wagte es nicht,

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