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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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die Frau zu bedrängen. Er fragte auch keine andere. In seinem Inneren hegte er die absurde Angst, das Mädchen könnte Angelika vor ihrer Gefangenschaft einmal begegnet sein und sie trotz ihres heruntergekommenen Äußeren und ihrer Falten erkennen. Und dann hätte sie der Polizei Hinweise geben können.
    ,,Was denn für Hinweise, wenn Sie ihr die Augen verbunden hätten?“
    Fritzl biss sich auf die Lippe. Er ärgerte sich, dass er sich dieses Vergnügen aus Dummheit und Ängstlichkeit versagt hatte.
    Der Kommissar setzte sein Verhör fort.

Im Keller gab es ein Klima, es gab Jahreszeiten. Sommer, Winter, alle Stadien von Frühling und Herbst. Kälte, Feuchtigkeit, Hitze, Trockenheit. Die Bewohner hatten Sorge wegen des Wetters am nächsten Tag. Ein Temperatursturz, und die Luft wäre kühler, man könnte meinen, sie wäre neu geliefert worden. Vielleicht hört es heute Nacht auf zu regnen, der Boden trocknet, und die Ratten bleiben in ihren Löchern. Wenn es ein bisschen wärmer wird, kann man schlafen, ohne sich plump in Pullover und alte Strickjacken zu wickeln, die Fritzl herunterbrachte, anstatt sie wegzuwerfen.
    Jahreszeiten, aber keine Bäume, kein Gras, keine Blumen, keine Schneeflocken. Manchmal fiel ein bisschen Pollen durch die Löcher in der Erde und die Latten, kleine Schächte, Falltüren aus Gras, die sich vielleicht im Wind öffnen würden. Angelika merkte natürlich, dass die Kinder schnieften, niesten, sich die Augen rieben. Der Hustensaft beruhigte sie, im Frühjahr schliefen sie viel.
    Die ersten lauen Böen im Juni. Die Freude, sich in kurzen Ärmeln an die Arbeit zu machen, ohne mit den Zähnen zu klappern. Die ersten richtig heißen Julitage, lustvoll und genüsslich lässt man Eiswürfel in einem Glas Hustensaft klingeln. Wenn der Nordwind die Sommerhitze lindert, hat man den Eindruck, das Leben unter der Decke sei schön.
    Schmerzen, Krankheiten statt Entfaltung. Pflanzen, gewelkt in der zu heißen Sonne, verkümmert im Frost. Bäume, deren Äste im Sturm brechen. Schnupfen, Halsschmerzen, Bronchitis schwächen sie. Hitzschläge, die Haut schuppt sich, als würde die Sonne klammheimlich hereinscheinen und sie verbrennen, wenn sie schlafen. Im Herbst Rheuma, das selbst die Kinder erfasst, beim Aufwachen halten sie sich den Rücken wie kleine Greise.
    Im Keller herrschte oft Niedergeschlagenheit. Es gab aber auch Phasen plötzlicher Aufregung und manischer Fiebrigkeit. Eine manische Fiebrigkeit. Angelika riss die Matratze vom großen Bett, räumte das Zimmer aus. Den leeren Raum spritzte sie mit kochendem Wasser aus, den Mikroben machte sie mit der Wurzelbürste den Garaus, sie spürte, wie sie im Todeskampf platzten. Stundenlang nahm sie die Wasserlachen mit dem Trockentuch auf, das sie wie besessen in der Spüle auswrang. Dann rieb sie den Boden mit Unmengen von Geschirrtüchern bis zur Erschöpfung trocken.
    Am Ende waren alle Tücher nass, und Angelika machte sich über die Kartons her, in denen sie die Kleider sorgfältig gebügelt und zusammengefaltet aufbewahrte. Nacheinander ließ sie sie pitschnass liegen, voller schwarzer Flecken, die bei keiner Wäsche je mehr rausgingen.
    Sie zog sich aus, wischte mit ihrer Unterwäsche weiter. Sie zog die Kinder aus und rieb mit deren Kleidern den Boden, bis sie in Fetzen hingen.
    Nach fünfzehn, zwanzig Stunden Arbeit klappte Angelika mitten im Zimmer zusammen. Nervenzusammenbruch. Sie schlug mit den Händen auf den Boden ein. Ein Weinkrampf. Dann ließ sie apathisch und mit offenen Augen den Kopf auf den Boden sinken, ohne Schlaf zu finden.
    Die Kinder verhielten sich synchron zum Wetterbericht, der das Innenleben ihrer Mutter beherrschte. Wenn ein Gewitter ausbrach, waren sie wie elektrisiert. Sie stampften, trampelten, sprangen, rannten mit dem Kopf gegen die Wand. Den Schmerz spürten sie nicht, weder Beulen noch Wunden konnten sie auf irgendeine Weise beschwichtigen. Nach einer Stunde fielen sie um, erschöpft oder nach einem zu heftigen Aufprall endgültig von der Wand besiegt.
    Dann schliefen sie lange. Nach einem zähen, schmerzhaften Erwachen tobten sie weiter, während ihre Mutter versuchte, rohe Kartoffeln mit einem Seidenschlüpfer zu polieren.

Am Tag, als die Zwillingstürme einstürzten, wurde Petra zwölf Jahre alt. Ein Strich von einem Mädchen, im selben Alter wie damals ihre Mutter, als der Vater sie zu besuchen begann. Fritzl zögerte nicht, sich ihr zu nähern, sie zu betasten, zu befummeln, sie mit den Fingerspitzen zu

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