Claustria (German Edition)
erinnert er sich nicht. Das Gedächtnis der Österreicher verweht mit dem ersten Windstoß. Das ist so, als würde man versuchen, Herbstlaub zu lesen.“
„Warum hat niemand etwas gehört?“
„Unser Land ist geheimnisvoll. Alle sind blind und taub. Von den Stummen und den Minderbemittelten gar nicht zu reden.“
„Werden Sie auf schuldig plädieren?“
„Wo hört die Unschuld auf, wo fängt das Verbrechen an? Er wollte Angelika vor den Gefahren der Freiheit bewahren. Anstatt heute Mutter mehrerer Kinder zu sein, wäre sie ohne das Eingreifen ihres Vaters vielleicht an einer Überdosis gestorben.“
„Laut Angaben der Polizei hat sie nie Drogen genommen.“
„Sie war auf der schiefen Bahn. Mit fünfzehn hat sie angefangen, große Mengen Bier zu trinken, hinter den Burschen her zu sein, auszureißen und Gott weiß was zu rauchen.“
Er faltete die Hände, wie um die Journalistin anzuflehen, dem Opfer zu verzeihen.
„Und das war Ihrer Meinung nach Grund genug, sie vierundzwanzig Jahre lang einzusperren?“
„Er hätte sie natürlich freilassen können, wenn sie nach ein paar Monaten zur Vernunft gekommen wäre. Aber wer hat noch nie Fehler bei der Kindererziehung gemacht?“
Er verdrehte die Augen zum Himmel.
„Vielleicht werden sich die Kinder nie hier eingewöhnen. Dann wird ihre Befreiung wie ein Verbrechen dastehen. Freiheit braucht eine lange Lehrzeit. Ihre Grundlagen lernt man nicht, wenn man neunzehn Jahre in einem Loch verbringt. Diese armen Kinder sind wie seltene Vögel, sie benutzten ihre Flügel, um zu krabbeln, und nun verlangt man von ihnen, dass sie flügge werden.“
Aus seinem Gesicht sprach tiefe Trauer.
„Wir machen uns Sorgen, große Sorgen. Mein Mandant darf sie weder sehen noch ihnen schreiben. Sie sind schon ausreichend gebeutelt – wie sollen sie sich denn wieder fangen, wenn man ihnen ein so beschädigtes Vaterbild präsentiert? Die Eltern sind zwei Säulen, eine davon ist gerade eingestürzt, und die Medien tanzen auf den Trümmern herum. Wo wären Sie heute, meine Herrschaften, wenn man Sie in Ihrer Jugend behandelt hätte wie Kinder eines Ungeheuers?“
In allen Sprachen ertönten Fragen nach dem übersteigerten Sexualtrieb seines Mandanten.
„Vergewaltiger, Perverse, Besessene gründen mit ihren Partnerinnen keine Familie. Es wäre für meinen Mandanten einfacher gewesen, seiner Tochter die Pille zu besorgen. Aber er war der Meinung, sie könne sich durch die Mutterschaft voll entfalten und darin aufgehen. Dank ihm hat sie Kinder geboren. Überdies hatte Angelika einen unstillbaren Hunger nach Kindern. Als sie nach zwei Jahren Gefangenschaft eine Fehlgeburt hatte, verfiel sie in eine tiefe Depression. Sie bekam erst wieder Lust am Leben, als sie mit ihrer ältesten Tochter schwanger wurde.“
Er sah auf die Uhr. Verstohlen legte er die Hand aufs Herz wie ein Schauspieler, der seinem Publikum nach einer Vorstellung dankt.
„Es ist Mitternacht, ihr jungen Leute. Zeit für Sie, ins Bett zu gehen, und Zeit für mich, mich bis zum Morgengrauen in diese Akte zu vertiefen.“
Aus Begeisterung über die Objektive, die ihn durch die getönten Scheiben seines BMW suchten, hätte er fast einen Betrunkenen angefahren, der die Straße überquerte.
Zurück in Linz, widmete er sich umgehend dem Aktenstudium. In seiner Tasche steckte ein Bericht, den der Kommissar ihm übergeben hatte. Er enthielt nicht sehr viel mehr als die Informationen, die die Presse schon verbreitet hatte. Die Heizung war außer Betrieb, aber Gretel war viel zu aufgeregt, um sich die Mühe zu machen, den Radiator anzuschalten.
Mit der Pelzmütze auf dem Kopf rieb er sich kurz die Hände über den Unterlagen. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und schaltete den Fernseher ein, der inmitten von Aktenstapeln verloren auf einem Tisch stand. Er klickte sich bis CNN durch. Eine Reportage über den Irak, es ging um die steigenden Preise für ein Barrel Rohöl der Marke Brent , um die Zukunft Hillary Clintons als Präsidentschaftskandidatin. Er freute sich, als er sich nach einem endlos langen Wetterbericht auf dem Bildschirm sah. Sein Auftritt dauerte nur wenige Sekunden.
„Josef Fritzl ist vor allen Dingen ein Vater, dem das Glück seiner Kinder immer am Herzen lag.“
Er fand seine Stimme tief und angenehm, bedauerte aber, keine blauen Augen zu haben, die das Licht bestimmt besser eingefangen hätten als seine dunklen Augen. Er dachte, nun wäre es zu spät, noch kolorierte Kontaktlinsen zu
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