Claustria (German Edition)
besorgen, sie würden nicht mit den ersten Bildern dieses gloriosen Epos übereinstimmen, in dem er nun einer der Helden war.
Gegen halb eins wühlte er in den Schubladen. Schließlich fand er das Quartheft, das er vor acht Jahren gekauft hatte, um seine Gedanken über die Erhabenheit des Anwaltsstandes niederzuschreiben. Sorgfältig füllte er Tinte in seinen Füllfederhalter. Er machte sich daran, die Ereignisse des Tages in der gestochenen Handschrift eines Schülers, der seine erste Hausarbeit des Schuljahrs in Schönschrift überträgt, auf Velinpapier zu bannen. Bis zum Urteilsspruch führte Gretel täglich Tagebuch.
Gleich am nächsten Tag übertrug er seinen Sozii all die unbedeutenden Fälle, Scheidungen oder Nachbarschaftsstreitigkeiten, die nichts einbringen außer dem mickrigen Honorar der streitenden Parteien.
Er stand bei Tagesanbruch auf, aß Müsli und eine Grapefruit, damit die Vitamine ihm ein wenig Farbe auf die Backen zauberten – seinen eher gräulichen Teint hatte er immer beklagt. Danach machte er ein Dutzend Klimmzüge an einem Reck, das im Türstock des Badezimmers klemmte, rasierte sich gründlich, rieb sich mit einem Rosshaarhandschuh unter der Dusche ab, cremte seine Haut ein, die sich bei dieser rohen Behandlung gerötet hatte. Dann war er endlich so weit, dass er eine halbe Stunde vor seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer verbrachte und vor einem Standspiegel, der von Lampen eingerahmt war wie ein Garderobenspiegel, Hemden, Krawatten und Anzüge anprobierte.
Nachdem Fritzl eine Woche lang vernommen worden war, verlegte man ihn ins Gefängnis von St. Pölten, hundertdreißig Kilometer von Linz entfernt. Gegen elf Uhr erschien Gretel vor dem großen Tor, nicht selten gab er sein erstes Interview des Tages auf diesem Vorplatz. Ihm gefielen sein Lächeln und seine kleinen manikürten Hände, die er graziös vor sich in der frischen Luft bewegte. Er sprühte vor Esprit, der selbst den lästigsten Journalisten ein Lächeln entlockte. Er hatte sich angewöhnt, jedes Interview mit einer hoheitsvollen Phrase zu beenden.
„Unsere Plauderei neigt sich nun dem Ende zu. Ich danke Ihnen.“
Dann machte er eine Pirouette, präsentierte den Kameralinsen seinen Rücken und tippelte mit kleinen, schnellen Schritten davon wie Charlie Chaplin in seinen frühen Filmen.
In den ersten Tagen traf er sich mit Fritzl im Besucherzimmer. Dann kam er auf die Idee, ihn in der Zelle zu besuchen.
„Das ist bequemer.“
Der Gefängnisdirektor gestand es ihm zu. Ein Raum, der sechs Quadratmeter größer war als der, in dem Fritzl vierzig Jahre zuvor eingesessen hatte. Ein Elektrokocher fungierte als Küchenzeile, und mit einem Schlauch, der an den Wasserhahn am Waschbecken angeschlossen wurde, konnte der Insasse sich über der Toilette duschen, auf die er sich unter anderen Umständen setzte. Er könnte auch gleichzeitig duschen, wenn er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte.
Der Anwalt nahm Platz auf einem Hocker, der am Boden verankert war, auf einem dicken Polster, den die Gefängnisleitung dem Insassen altershalber bewilligt hatte. Fritzl setzte sich auf sein Bett. Kurz darauf ließ er sich gleichgültig gehen und legte sich schließlich hin. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als würde er auf einer Wiese dösen. Er redete bereitwillig, schilderte die Geschichte des Kellers so blumig wie eine Odyssee, untermalte seinen Bericht gern mit wohlwollenden Äußerungen über seinen Penis.
„Ein fleißiger, solider Arbeiter.“
„Kommen wir auf Ihren Keller zurück. Geben Sie zu, dass das Ganze doch eine eigenartige Idee war?“
„Ich bin nicht der einzige Österreicher mit so einem Keller.“
2006 konnte Natascha Kampusch aus dem Keller bei Gänserndorf flüchten, in dem sie ihr Entführer im Alter von zehn bis achtzehn Jahren gefangen gehalten hatte. Die Stadt liegt anderthalb Autostunden von Amstetten entfernt.
„Ich hatte aber als Erster einen.“
„Herr Fritzl, ich bitte Sie inständig, sich vor der Öffentlichkeit nicht damit zu rühmen. Überdies war Nataschas Entführer nicht ihr Vater, er hat ihr kein Kind gemacht, und dieses Untergeschoss, aus dem er sie täglich geführt hatte, damit sie frische Luft schnappen konnte, war allenfalls ein Ausweichquartier. Er hat sie sogar zum Skifahren mitgenommen. Dieser Mann war ein merkwürdiger Kerkermeister.“
Fritzl streckte sich, brummend vor Wohlbefinden, zufrieden, einzigartig zu sein.
„Wissen Sie, vielleicht sollte die
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