Claw Trilogy 01 - Fenrir
Kiels auf dem Strand.
Aelis konnte nicht sprechen. Sie suchte nach den Runen und konnte sie nirgends entdecken. Es war, als seien auch sie vor dem Wolf geflohen.
Sie wollte sich entziehen, doch er hielt sie fest, indem er ihr eine große Krallenhand auf das Bein setzte.
»Ich habe mich gewehrt«, sagte das Wesen. »Kennst du mich denn nicht?«
»Du bist ein Ungeheuer.«
»Ich bin Jehan der Beichtvater. Ich habe versucht, dir zu helfen und dich vor dem zu retten, was dich verfolgt.«
»Warum hast du ihn dann nicht am Strand getötet?«
Das Wesen senkte den Kopf. »Ich habe nur dich gesehen. Dich. Ich habe versucht, dich zu beschützen, aber ich kann nicht in deiner Nähe sein. Die Raserei, die mich erfüllt, wird mich verzehren.«
Es richtete sich auf und wandte sich von ihr ab, als wollte es weggehen, dann ließ es sich wieder auf alle viere fallen, schnappte und drehte sich, als fühlte es sich von einer aufdringlichen Fliege behelligt. Das Untier hockte sich hin und knurrte mit gebleckten Zähnen: »Lass mich hier zurück. Geh weg, denn ich habe einen Wolf in mir, den ich nicht ruhig halten kann.«
»Warum bist du dann gekommen?«
»Um dich zu sehen, um dich zu berühren.«
Aelis betrachtete den Stein, den sie immer noch in der Hand hielt. Der Rabe hatte das Lederband verlängert, damit es um den Hals des Wolfs passte. Sie glaubte nicht, dass es gelingen würde, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Vorsichtig näherte sie sich dem sich windenden Wolf. Er duckte sich und sträubte die Haare wie ein Hund, der fürchtet, man könne ihm den Knochen wegnehmen. Sie beugte sich vor, um ihm den Stein um den Hals zu binden, doch das Wesen fletschte die großen gelben Zähne. Aelis fuhr zurück. Aus dem Maul drang der Gestank des Todes.
Knurrend, als zerkaute es Knorpel und zerrisse Gelenke, sprach das Wesen zu ihr. »Ich werde das nicht tragen. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich liebhaben und meine Gebote halten. Erweise mir deine Gnade, o Herr. Erweise mir nun deine Gnade!«
Sie streckte die Hand aus, um das große Tier zu trösten, doch es zuckte zurück, rollte sich weg und schnappte zugleich nach ihr. Dann fiel es sie mit ungeheurer Geschwindigkeit an, warf sie zu Boden, stand ein paar Augenblicke wehklagend über ihr und sprang in den Wald davon. Nach ein paar Schritten war es verschwunden. Aelis war allein im tiefen Wald, die Nacht kam, sie war ausgehungert und durchgefroren. Auf einmal aber war sie nicht mehr allein und verspürte keinen Hunger mehr. Eine seltsame Wärme durchflutete sie. Vor dem inneren Auge sah sie einen Sonnenaufgang, der ein frisches, klares Licht in den Wald sandte. Hell und deutlich erkannte sie die Spuren des Wolfs in der Dunkelheit. Eine Rune war in ihr entflammt.
Aelis folgte der Fährte durch die Bäume. Es war Nacht, das wusste sie, und doch war es nicht dunkel. Das Licht in ihrem Geist erhellte alles wie am Tag, konnte aber die Nähe des dunklen Waldes nicht völlig vertreiben. Es war, als wandelte sie durch zwei Wälder zugleich. Ein Wald war hell, der andere dunkel.
So lief sie und lief inmitten der Düfte des Waldes – die feuchte Erde und das Gras, das Harz, das an ihren Händen haften blieb, wenn sie sich an Bäumen vorbeischob. Motten flatterten in der Dunkelheit, kleine Wesen gruben und seufzten im Lehm und den tieferen Erdschichten darunter. Die Farbe des Himmels wechselte von Pech zu Silber, Vögel sangen, Wärme und Lichtpfeile drangen in den Wald ein.
Kurz nach der Dämmerung fand sie den schlafenden Wolf. Er hatte sich an einen umgestürzten Baum geschmiegt und sich mit Erde bedeckt. Im Schlaf schien das Wesen die Runen nicht auf die gleiche Weise zu verängstigen wie im Wachen. In ihrem Kopf kreisten die schimmerndem Symbole. Aelis betrachtete den Anhänger. Wie die Nacht, die für sie taghell war, wie der Wolf, den sie als Mann gesehen hatte, war auch dieses Ding zweierlei zugleich. Es war ein Stein mit einem eingeritzten Wolfskopf, es war aber auch ein dunkles Loch wie ein herausgerissenes Stück des Nachthimmels, viel größer als der Stein, den sie in der realen Welt sah.
Sie
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