Claw Trilogy 01 - Fenrir
trug ihn davon, und er vergaß, wo er war. Irgendwann bemerkte er, dass es dunkelte. Das Tageslicht schwand. Im ersten Moment dachte er, der Himmel habe sich bewölkt, aber dann erkannte er, dass es tatsächlich die Abenddämmerung war. Vom Tal her wehte der Geruch der Lagerfeuer herüber, die Sonne stand niedrig zwischen den Bäumen. Die Berserker waren ruhig und hatten sich ins Gras gelegt, als schliefen sie. Die Frau, dieses gesichtslose Entsetzen, umarmte und wiegte immer noch den Mönch. Der Rabe hockte in der Nähe auf den Knien und starrte ins Leere. Leshii hörte ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Zuerst kam es ihm vor wie der Wind in den Bäumen. Es war jedenfalls ganz ähnlich, es schwoll an und erstarb, doch es war nicht der Wind. Eher wie der Atem einer großen Zahl von Menschen, die leise tuschelten.
Der Gesang der Frau nahm kein Ende. Leshii blickte zu den Bäumen hinauf. Ringsherum sammelten sich die Raben. Sie ließen sich auf den Ästen nieder und hoben sich als dunkle Umrisse vor dem Abendhimmel ab. Hier befand sich ihr Horst, wo sie bei ihresgleichen bis zur Morgendämmerung Schutz suchten.
Auf einmal löste sich einer wie ein dunkles Blatt aus dem Baum und landete auf der Schulter der Frau. Er drehte neugierig den Kopf hierhin und dorthin. Leshii sah, wie sie den Finger hob. Er pickte danach und schlug ihr eine blutende Wunde. Die Frau schien es kaum zu bemerken, sondern schob dem Vogel den Finger unter den Fuß. Er stieg auf den Finger, worauf sie mit der freien Hand nach der Schulter des Mönchs tastete. Dann blies sie den Vogel an, der daraufhin zum Beichtvater hüpfte. Der Mönch spürte, was geschah, und wollte den Kopf abwenden, doch die Schlinge hielt ihn fest. Ein gesunder Mann hätte sich winden können, um den Vogel zu erschrecken, doch das war dem Beichtvater nicht möglich. Mehr als eine winzige Drehung des Kopfes brachte er nicht zustande. Der Rabe pickte nun, allerdings nicht nach dem Mönch. Er zupfte ein kleines Stück aus der Hand, die an Jehans Hals hing, und krähte laut. Wenn die Nacht eine Stimme hatte, so dachte Leshii, dann musste sie so klingen. Jetzt stießen auch die anderen Vögel fröhlich krächzend von den Bäumen herab und machten sich über die Hand am Hals des Mönchs her.
Dann ertönte ein anderes Geräusch, eine Art Ausatmen oder ein tiefes Seufzen, das eher nach Verzweiflung als nach Schmerzen klang. Von der Wange, von der Stirn, vom Hals und auch von den Ohren und Lippen des Mönchs tropfte Blut herab.
Hugin kehrte zu dem Beichtvater zurück und hockte sich neben ihn.
»Odin, Herr, nimm diese Schmerzen als Opfer.
Odin, Herr, deine Diener flehen dich an,
Odin, Herr, da du in Qualen Weisheit fandest,
Odin, Herr, führe uns zu deinem Feind.«
Er murmelte die Worte immer und immer wieder.
Der Mönch zuckte, ein oder zwei Vögel flogen auf, doch vier blieben und zupften an seinem Körper. Sie gingen beinahe gemächlich zu Werke, sie pickten, schluckten, drehten sich, krächzten, riefen und pickten weiter.
Die Berserker standen kopfschüttelnd auf. Einige wandten sich ab und taten so, als interessierte sie der Anblick nicht. Nur einer sah fasziniert zu. Saerda schien das Schauspiel zu genießen. Der Händler bemerkte, dass Aelis nicht den Blick abwenden konnte und sogar zu sprechen versuchte, bei diesem Anblick bekam sie jedoch nicht mehr als ein entsetztes Stammeln heraus. Gleich, so fürchtete Leshii, würde sie sich verraten. Er legte ihr den Arm um die Schultern, was einerseits tröstlich gemeint war, sie andererseits aber auch zur Vernunft bringen sollte. Ihm war klar, wie seltsam es aussah, wenn der Herr mit dem Sklaven auf diese Weise umging, doch glücklicherweise achtete niemand auf sie, denn alle starrten den leidenden Beichtvater an. Die rote Sonne warf lange Schatten durch die Bäume, die mit langen Armen die aufziehende Nacht empfingen. Leshii erkannte, dass sie schon seit Stunden hier waren.
Der Mönch konnte sich kaum rühren, doch seine Stimme war stark und sogar leidenschaftlich. »Ich bin ihretwegen gekommen. Sie ist mir nahe.«
Der Händler zog Aelis fort. »Komm mit«, drängte er. »Weg hier.«
»Sie ist hier!«, kreischte der Mönch. »Sie ist hier.«
»Wo? Wo ist sie?« Der Rabe flüsterte ihm ins Ohr wie eine Mutter, die ihr ängstliches Kind in den Schlaf schmeicheln will.
»Hier, sie ist hier.«
»Kannst du sie sehen? Wo ist sie?«
»Sie ist mir nahe, sie war mir immer nahe. Herr Jesus, schenke mir Kraft, damit
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