Clemens Gleich
höflich. "Wie willst du das Würdigen? Also erstmal vielen Dank für euren Einsatz, ich weiß das wirklich zu schätzen. Wenn ich irgendwas tun kann, um mich erkenntlich zu zeigen, dann sag es mir." Es klang, als rezitiere er eine Vorlage. Jianna wollte ihm irgendetwas an den Kopf werfen, aber verbal fiel ihr nichts ein und real fiel ihr nichts auf, das sie hätte verwenden können. Zum Glück erreichten sie das Ende des Ganges und damit auch das der Diskussion. Vor ihnen lag ein hoher Raum, von dem wiederum überall Tunnel abgingen. Die Decke hing voller beeindruckend dicker Streben und Träger, die das gewaltige Gewicht der imperialen Eisenbahn trugen, deren Schienen dort oben durch die dicken Stadtmauern ins Freie führten. Jianna atmete durch. Sie hatten es fast geschafft. Am entfernten Ende des Raums befand sich eine runde Schleusentür. Sie erkannte sie einerseits aus der Beschreibung ihres Vaters, andererseits war es ohnehin die einzige große Schleusentür weit und breit. Mit sichtbarer Erleichterung tänzelte sie zur Tür hinüber und fummelte dabei eine Berechtigung aus ihrer Tasche. Auch diese stammte von ihrem Vater. Überhaupt das Einzige, was Herr Brieg auf seinen Rückzugsgefechten noch schwach für sich selber sichern konnte, war Jiannas Versprechen auf eine spätere detaillierte Erklärung aller Umstände. Gegeben hatte er dafür den kakerlaken- und wachenfreien Abzug aus der Stadt, eine Leuchtquarzlampe, einen Selbstkochtopf, der ohne Feuer funktionierte, Militärrationen, die wochenlang vorhielten, bevor man tatsächlich hungrig genug war, das steinharte, übelriechende Zeug zu essen, sowie diese Berechtigungskarte, die ihnen die Schleuse öffnen sollte. Jianna schob sie in eine Einbuchtung und wartete, bis die Tür sich davon überzeugt hatte, dass da auch alles mit rechten Dingen zuging. Die Tür ließ sich Zeit damit, zeigte alle Anzeichen mürrischen Misstrauens, die im Ausdrucksbereich einer ausdruckslosen Stahlschleuse liegen. Nach beredtem Schweigen knallte es schließlich, und die Stahllamellen zogen sich zögerlich zurück, in der Mitte einen immer größer werdenden Durchgang lassend. Selbst dieser Vorgang schien Jianna mit akzentuiertem Argwohn zu geschehen. Das anklagende Knirschen der Mechanik, das übertrieben laute Knallen der Sicherungsbolzen, die provozierend langsame Art, sich zu öffnen, das sprach doch eine deutliche Sprache. Doch als sie mit Pikmo die Schleuse hinter sich gelassen hatte, den frischen Nachtwind im Gesicht, sagte sie sich, sie solle nicht so dumm sein.
Sie standen auf einem kleinen Fußweg, der unter den großen Schienen der Linie sieben verlief. Weit unter ihnen leuchteten die Lichter der niemals schlafenden Slums, weit über ihnen leuchteten die Sterne durch das stählerne Skelett der Bahnbrücke auf sie herab. Jianna fühlte sich von frischem Mut, neuer Hoffnung und einigen diffuseren generell guten Gefühlen durchströmt. Sie nahm die Brücke fast im Laufschritt. Es würde alles gut werden, das konnte sie tief in sich drin fühlen, wenn sie auch nicht so genau wusste, wo in ihr drin genau das war, auf jeden Fall tief.
Milo war Künstler und lebte im Haus seiner Eltern, das in einer namenlosen Ansammlung von Aussiedlerhäusern unweit der Hauptstadt stand. Er war fast dreißig und damit viel zu alt, um Mama und Papa noch in ihrem Heim auf den Nerven zu hocken, doch waren die beiden schon seit ein paar Jahren tot, deshalb störte sie das nicht mehr. Ihr Ableben war wenig spektakulär, sie wurden nicht erschossen, zerfleischt oder verbrannt, nein, sie waren einfach alt. Ihre Zeit war reif. Ihr einziges Kind hatten sie so spät im Leben bekommen, dass sie nicht mit ansehen mussten, wie es täglich mehr mit dem Leben haderte.
Der heutige Grund zum Hadern war Unzulänglichkeit: Gerade hatte Milo eine äußerst erfolglose kreative Nachtschicht eingelegt, die jeder Kreativität entbehrte. Er lag mit in den Armen versenktem Kopf auf seinem Schreibtisch. Nicht, weil er müde war, sondern weil er das Gefühl hatte, auf dem Tiefpunkt seines bisherigen Schaffens angelangt zu sein und dass es von hier aus trotzdem nur noch bergab gehen könne. Dieses Gefühl besuchte ihn regelmäßig etwa alle fünf Tage und das damit verbundene Haareraufen war (neben seiner konsequenten Vernachlässigung der Körperpflege) der Grund dafür, dass seine dunkelblonden Haare noch geraufter als gestern aussahen. Die Ursache für seinen heutigen Zusammenbruch hieß Kiranda. Milo hatte sich
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