Clemens Gleich
Warum?"
"Lass mich doch mal zu Ende erzählen!"
"Oh! Ent... Ja. Gut."
"Also, Pikmo ist als gestohlen gemeldet, aber ich habe ihn nicht gestohlen. Er ist von selber geflüchtet, soweit ich das beurteilen kann. Verstehst du, was das bedeutet?"
"Äh... Dass er defekt ist?", probierte Milo. Es war die falsche Antwort.
"Oh, Mann!", rief Jianna. "Du bist genauso wie alle! Ihr denkt doch, dass Fellige nur Maschinen sind, mit denen man alles machen kann! Dass sie keine Seele haben, keine Gefühle!"
"Nein! Ich... Ich wollte nur... Ich habe nur..." Er gab auf: "Es tut mir leid!"
"Ja, ja, ja. Hoffentlich tut es dir wirklich leid. Das Erstaunlichste ist nämlich der Grund, aus dem er geflüchtet ist." Milo war inzwischen nervös bis in die Spitzen, hatte aber wenigstens den Tee fertig. Damit setzte er sich an den Tisch und fragte beim Eingießen höflich:
"Wirklich? Ja. Tja. Was ist denn der Grund?"
"Frag ihn", sagte Jianna, auf Pikmo deutend. Der stand immer noch neben dem Tisch, was Jianna ziemlich stresste, jetzt, wo es ihr auffiel. Doch ihr eben kreiertes Drama wollte sie nicht ausgerechnet jetzt unterbrechen, deshalb genügte es ihr für den Moment, ihre Mundschleimhäute abzukauen.
"Gut", startete Milo. Er fragte ihn: "wieso bist du geflüchtet?"
"Um meine Liebe zu finden", gab Pikmo an.
"Du meinst deine Besitzerin." Hatte er das gesagt? Milo verfluchte die Welt dafür, dass ihm das rausgerutscht war. Sein Schamreflex malte sich schon aus, was Jianna ihm alles an den Kopf werfen würde.
"Nein, ich meine jemand anderen", stellte Pikmo klar.
"Siehst du?!", strahlte Jianna. "Ist das nicht sensationell? Alles, was das Imperium über ihre Limiter und ihre technischen Beschränkungen sagt, ist damit widerlegt! Pikmo ist der Beweis, dass Fellige doch mehr fühlen als das, was ihnen einprogrammiert wurde." Milo atmete durch. Doch kein Anpfiff, gut.
"Najaa", hob er zum Widerspruch an, wollte sich sogleich dafür würgen und versuchte, sich zu retten, indem er nachlegte: "Naja, das ist doch schonmal ziemlich einzigartig. Und was sagt das Imperium dazu?"
"Dass er gefährlich ist." Milo erschrak. Jianna bemerkte es. Sie rollte mit den Augen.
"Oh, reiß dich zusammen! Und Pikmo, steh nicht so rum wie bestellt und nicht abgeholt, setz dich hin!" Pikmo gehorchte. Sofort tat es Jianna leid. Milo tat es ebenfalls leid, was immer es auch war.
"Wie kann ich dir eigentlich helfen?", fragte er. Jetzt, wo es zu spät war, stellte Jianna sich zum ersten Mal die Frage, ob es klug war, bei Milo vorbeizuschauen. Die ganze Zeit stand sein Haus als logisches Ziel, als Sprungbrett ins Abenteuer einfach fest, das hatte sie blind akzeptiert, obwohl sie momentan noch nichteinmal den Gedankengang dahinter rekonstruieren konnte. Doch es gab zum Glück außer menschlicher Wärme, Abgeschiedenheit und Verständnis tatsächlich noch einen Grund, ausgerechnet hier vorbeizuschneien.
"Kannst du uns ein Fahndungsbild von Pikmos Geliebter malen, wenn er dir genau erklärt, wie sie aussieht?" Milo lächelte gequält.
"Das kann ich schon versuchen, aber ich schaffe es ja anscheinend nichtmal, Gesichter zu portraitieren, die ich kenne."
"Putz dich nicht immer selber runter, Milo. Ich kenne deine Portraits und ich finde sie alle sehr gelungen."
"Danke. Ich habe nur gerade wieder einen völligen Selbstwertverlust, weil ich ein Gesicht nicht so perfekt hinkriege, wie es in meinem Kopf aussieht."
"Du malst doch nicht immer noch immer wieder diese Frau?"
"Äh... Doch. Kiranda..." Milos Augen glitzerten verträumt.
"Es wird dir guttun, zumindest ein paar Stunden mal an was Anderes zu denken", befand Jianna und wendete sich an Pikmo: "Kannst du deine Liebe so detailliert beschreiben, dass Milo mir ein Bild malen kann?"
"Ich könnte sie so detailliert beschreiben, dass ein Biotechniker sie nachbauen kann."
"Ihr seid beide liebeskrank", lachte sie.
Nach erstaunlich kurzer Zeit hielt Jianna außer ihrem dritten Sandwich das Bild einer wunderschönen, aber traurigen Frau in Händen. Es war bestimmt ein wenig schmeichelhaft ausgefallen, weil Pikmo die rosa Brille des Verliebten trug, aber dennoch war das Bild so detailgetreu, fühlte sich so echt an, als hätte die Person eben noch vor Milo im Zimmer gesessen. Die Frau hatte dunkles, leicht lockiges Haar und noch dunklere Augen, in denen der Weltschmerz geschrieben stand. Milo war selbst baff. Noch nie hatte er jemand erlebt, der derart detailliert ein Gesicht aus dem Gedächtnis beschreiben konnte.
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