Clemens Gleich
hoffnungslos in dieses Mädchen verliebt, kitschigerweise gleich beim ersten Anblick. "Hoffnungslos" beschrieb seine Liebe hervorragend, denn es gab keinerlei Hoffnung auf Erfüllung. Kiranda hatte Milos Herz versehentlich und unwissentlich gewonnen und konnte ihrem Verehrer tags darauf nichteinmal bestätigen, ihn zu kennen, weil sie auf der Feier zu betrunken gewesen war. Allerdings hätte sie nüchtern Milos ebenfalls stark alkoholhaltiges Geschwafel über Farben und ihre Haare nie so lange ausgehalten. Sie hätte ihn nach den ersten zehn Silben stehengelassen und das wäre insgesamt besser für ihn gewesen. Seit diesem zumindest für ihn so schicksalsträchtigen Abend hatte er nur einen Gedankengang: Sie. Ihr Kopf mit der langen, lockigen Haarpracht in schimmerndem Gold schwankte durch seine Träume, ihr unsicherer Tritt berührte sein Herz, ihre charmante Art, bei schallendem Lachen den Wein aus dem Glas zu schubsen, all das hatte sich unauslöschlich in seine Neuronennetze gebrannt. Ja, er kannte sie nur an diesem Abend, als sie schon lange nicht mehr Herr ihrer Motorik war. Doch es war Liebe – einseitige. Er hatte ihr wortreiche, seitenlange Briefe geschrieben, nach deren fünf sie sich endlich seiner erbarmt hatte und ihn einer Antwort würdigte, selbst wenn es nur die war, dass er sie nicht mit seinem Geschreibsel nerven solle und wer zur Hölle er überhaupt sei. In einem Antwortbrief von romanartigen Ausmaßen hatte er ihr zu erklären versucht, wer er sei und vor allem: wer sie für ihn sei, aber er erhielt aus ihm unendlich unfair scheinenden Gründen keine Antwort. Anstatt Kiranda zu vergessen, bildete sie fortan den Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens und das praktisch einzige Motiv. Hinter ihm am Zeichentisch klemmte eine Kohlezeichnung ihres Gesichtes, auf der er seine Liebe auf den ersten Blick einfangen wollte. Das Werk war fast fertig, doch Milo haderte damit, dass er den weinselig-niedlichen Ausdruck, den sie damals trug, partout nicht so perfekt einfangen konnte, wie er sich in sein Gedächtnis gebrannt hatte.
Also tat er das, was er in dieser Situation immer tat: Er grub sich mit Argumenten, wie unwert, schlecht, verabscheuungswürdig und abstoßend er doch war, ein tiefes, dunkles Loch. Dieses ließ er mit schwerem, klebrigen Selbstmitleid randvoll laufen, setzte sich hinein und ließ sich einweichen. Wenn es sein musste, hielt er es darin tagelang aus. Heute hatte er eben erst begonnen, sich so richtig hineinsinken zu lassen, als es am Fenster klopfte. Er schreckte hoch, schauderte und zog sich seine Cordjacke an. Nächtliches Fensterklopfen war praktisch immer der Auftakt zu unaussprechlichen Greueltaten, zumindest in den Büchern, die er mit Vorliebe las. Er erinnerte sich an ein Gedicht mit einem Klopfen darin, dass ihm für seine augenblickliche Situation sehr passend schien. Wie der Protagonist dieser Reime fasste er sich ein Herz, trat ans Fenster und stieß dieses auf, komme, was wolle. Nein, doch nicht... Sein kurzer Anfall mutiger Wut machte wieder der üblichen Zögerlichkeit Platz. Wer würde zu dieser Stunde... welche Stunde war es überhaupt? Milo sah auf die Uhr. ...zu dieser späten Stunde in seinem Garten hocken und ans Fenster klopfen? Er verfluchte die Welt dafür, dass er vergessen hatte, die Fensterläden zuzuziehen. Er presste die Nase ans Glas und erschrak zu Tode, als ein bleiches Gesicht in den Schein des Lichtes sprang, umrahmt von wild gestikulierenden Armen. Er stolperte rückwärts, warf dabei einen Stuhl laut polternd um und flüchtete aus dem Zimmer. Im Gang kamen ihm eine Flut von Gedanken, die prominentesten davon waren Visionen seines grausamen Todes, Fluchtpläne und der nagende Hinweis aus einem rationaleren Teil seines Gedächtnisses, dass er dieses bleiche Gesicht kannte. Es versuchte, das restliche Gehirn zu beruhigen, erzählte ihm Anekdoten vom Campus und einer jungen Dame, die unauffällig, aber nett war, selbst zu ihm, und dass dieses bleiche Gesicht doch viel eher ihr ähnlich sah als irgendeiner Axtmörderin. Jianna Brieg, erinnerte sich Milo, eine Studienkollegin aus unwesentlich glücklicheren Tagen.
Sie war vor einiger Zeit wieder auf ihn zugekommen, weil sie Plakate für eine dieser komischen Organisationen brauchte, hatte diese zum Freundschaftspreis erhalten und hatte ihm im Gegenzug Freundschaft entgegengebracht, was Milo sehr wohltat. Die meisten anderen Leute, die er "Freunde" zu nennen pflegte, wenn er in guter Laune war,
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