Clemens Gleich
Täglichen Echos. Jianna verlor nach drei Zeilen das Interesse am Text. Ihre Augen wanderten zwar noch weiter mechanisch die Zeilen ab, doch ihr Gehirn war ganz woanders. Sie dachte an ihren Laden. Seit ihrer Rückkehr war sie noch nicht dort gewesen. Sie verspürte auch weiterhin wenig Lust dazu. Dort hingen die ganzen FAK-Plakate herum, die konnte sie jetzt nicht vertragen. Sie stellte sich vor, alle Plakate hinauszuwerfen, in einem leereren Laden zu arbeiten. Der Gedanke bildete eine Pfütze aus aggressiver Langeweile, die den Boden ihrer Seele verätzte. Dieser Klimperscheiß! Diese ewig gleichen Bücher mit den ewig gleichen dummen Versprechen, die sie stets nur ein paar Tage motivierten! Nein. Schon die Vorstellung widerte sie an, vor allem im Vergleich zur letzten Zeit. Ja, sie hatte sich ausgiebig mit diesem seltsamen Jungen Fuzz gestritten. Ja, sie hatte viel gejammert. Aber sie hatte sich auf ihrer Reise insgesamt die meiste Zeit ziemlich gut gefühlt. Nein, das stimmte nicht. Es ging ihr die meiste Zeit schlecht. Nur manchmal hatte sie sich ... richtig schrecklich gefühlt, zugegeben, aber so ... lebendig. Es war draußen. Alles war immer in Bewegung, nicht nur der Boden unter ihr. Es war dreckig; irgendwie ehrlich, direkt. Sowas müsste man immer machen können. Sie fragte sich, ob sie ihre 1000 Goldmark komplett verreisen sollte. Wie lange man davon wohl weg sein konnte?
Lustlos blätterte sie weiter in der Zeitung. Mord. Totschlag. Hundebabies. Kleinanzeigen. Morbide fasziniert las sie in den Kontaktanzeigen, wer wen für was suchte. Da fiel ihr Blick auf eine Verkaufsanzeige: "Kleiner Hof zu verkaufen. Es gibt Zuchtställe und dazugehörige gepflegte Gärten, Felder und eine Apfelbaumpflanzung. Schöne, ertragreiche Lage in den Genburg-Ebenen nicht weit von Paltberg. 1000 Goldmark. Ministerial beglaubigter Übernahmevertrag." Und eine Adresse. Es klickte in Jiannas Entscheidungsfindungszentrale. Sie schnappte sich die Zeitung, steckte sich den Rest ihres Brötchens in den Mund, verabschiedete sich mit "Mch mms nns ws mm-mm" vom Tisch und rannte nach oben in ihr Zimmer, an ihren Schreibtisch.
Kapitel 13
Freie Liebe
...worin Jianna Besuch vom imperialen Beamten Fuzz erhält ~ Salvin Huntgeburth, Chefredakteur ~ Pikmo wird erwachsen ~ Der zeitlose Moment
Ein später Frühsommernachmittag, warm und sonnig gelb. Eine Frau in Latzhosen, braungebrannt unter ihrem Sonnenhut.
Jianna wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann hob sie ihre Schubkarre voll Mist wieder an und beförderte den Dünger zu einem Beet. Sie schaufelte. Dann grub sie mit dem Spaten um. Sie sah angestrengt aus – angestrengt, aber zufrieden. Als sie fertig war, besah sie ihr Werk. Es war gut. Auf den Spaten gelehnt zog sie daher eine Dose aus ihrer Arbeitshose. Die Außenseite war vollkommen abgerieben vom Stoff der Taschen, in denen sie aufbewahrt wurde. Jianna öffnete die Dose, um ihr den letzten Rest von Tabak zu entnehmen. "Freiheit!" kam darunter zum Vorschein. Jianna schob sich den Tabak hinter die Oberlippe und dachte an ihre abenteuerliche Reise zurück. Retrospektiv betrachtet erschien sie ihr wie eine geführte Tour, als habe sie sich nirgends anders entscheiden können. Hatte diese Stimme des Imperiums vielleicht im Hintergrund Pikmos Fäden gezogen? Sie untersuchte diesen Gedanken kurz wie einen interessanten Käfer, kam aber zum Schluss, dass die Antwort kaum ermittelbar, ja: irrelevant war. Sie fühlte sich gut. Sie fühlte sich – ja tatsächlich: frei. Grinsend steckte sie die Dose wieder ein und genoss mit geschlossenen Augen die Sonne auf ihren Backen. Gab es objektive Freiheit? Musste es die überhaupt geben?
Sie öffnete die Augen. Es wurde einen Herzschlag lang hell, dann wieder dunkel. Jianna quietschte vor Schreck. Es war doch eben noch alles so friedlich gewesen! Dann nahm jemand die Hände von ihren Augen und lachte aus vollem Hals. Wütend drehte sie sich um. Es war Fuzz. Er trug sehr ordentliche, teure, dunkelrote Kleidung mit weißem Kragen, weißen Ärmelstulpen und weißer Knopfleiste.
"Mann, hast du mich erschreckt!", kreischte Jianna. "Wie kommst du auf einmal hierher?"
"Hahaa! Mächtige Zaubersprüche!" Fuzz reckte das Kinn vor und stemmte die Arme in die Seiten. Dann lächelte er freundlich: "Dir geht's gut, hm?"
"Ja. Ein ehrliches Ja ohne Aber. Und wie geht es dir? Willst du wirklich Beamter werden? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen."
"Ich mir auch nicht!", gab Fuzz zu.
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