Clemens Gleich
schienen.
Zweitausend Schritte später schwemmte der Strom der Fans die Flüchtigen durch die Kassenschranken und auf die Tribüne eines Stadions am Stadtrand, das Jianna seines Standorts mitten im Nirgendsrothofer Nirgendwo wegen gigantisch, ja: grotesk überdimensioniert schien. Bei ihrem Eintreffen waren die Ränge jedoch schon so voll, dass sie sich nicht vorstellen konnte, irgendwo ihren Platz zu finden, und noch immer quollen unablässig Leute herein. Es gab kaum jemanden, der sportlich uninteressierter sein könnte als Jianna, doch das typische elliptische Spielfeld mit den drei weiß gezeichneten Kreisen auf rotem Sand war ebenso charakteristisch wie allgegenwärtig, sodass sie zumindest das Spiel auf Anhieb erkannte: Pao. Eine Art barbarisches Mannschaftsspiel, in ihren Augen nur wenig zivilisierter als der Krieg an sich. Sie hatte sich nie genug dafür interessiert, um die Regeln zu lernen, es ging jedoch irgendwie darum, den roten Spielstock in einen Trichter zu bekommen, weil dann das ganze Publikum aus vollen Lungen "PA-OH!" schreien durfte. Zu diesem Zweck wurde die ganze Zeit gerempelt und geschrien, und offenbar war es manchmal erlaubt oder regeltechnisch nötig, dass ein brutal aussehender Stiernacken einem kleineren, schwächeren Spieler den Stock ins Kreuz schwartete. Auch dann jubelte das Publikum bei besonders guten Treffern. Barbarisch eben. Wie konnte jemand sowas unterstützen, indem er dafür Geld ausgab? Die Eintrittskarten hatten ein schmerzhaftes Loch in ihre Abenteuerkasse gerissen. Als Kompensation wollte sie jetzt wenigstens aus ihrer aufgeklärt-überlegenen Warte aus über ein Stadion voller Urmenschen herziehen, während sie nach einem unauffälligen Ausgang suchte. Mit verächtlich gerümpfter Nase wandte sie sich nach Pikmo um. Der strahlte sie an:
"Das ist Pao!" Und noch bevor Jianna ein Wort des Lästerns anbringen konnte, fuhr er schon fort: "Ein tolles Spiel! Taktisch wie körperlich sehr anspruchsvoll und daher entsprechend populär in der Bevölkerung! Wir haben echtes Glück, heute spielen die..." Jianna drehte sich abrupt um und stapfte weiter die Tribünentreppen hoch, um nicht mit dem Wissen um die Namen der Mannschaften kontaminiert zu werden. Unten aus dem Stadion erschallte eine künstlich verstärkte Stimme, die die soeben einlaufenden Spieler vorstellte. Zumindest deren Vornamen. Den Rest durfte das Publikum brüllen. Es schien Jianna überhaupt, als habe der ihr nicht zugängliche Spaß an Pao hauptsächlich mit Schreien zu tun. Die archaische Atmosphäre der aus ungezählten Kehlen dröhnenden, wie Schlachtrufe scheinenden Namen der Gladiatoren ließ ihr dennoch unwillkürlich die Nackenhaare zu Berge stehen. Vom Schauer gingen die Haare gleich in die voll aufgestellte Schreckposition, als Jianna ihre Verfolger erkannte, die sich zielstrebig durch die vollen Ränge in ihre Richtung drängelten. Sie hatte von klein auf gelernt, dass die imperiale Wache zu den Guten der Welt zählte und zu ihrer Hilfe da war, deshalb erschreckten sie diese Stümper mehr, als es die Wache trotz der geballten Staatsmacht im Rücken gekonnt hätte. Vielleicht lag es aber auch einfach an der fiesen Fratze des klischeeschwarz gekleideten Anführers: Blonde, lange Haare hingen ihm in ein anstrengungsgerötetes, gemeines Fettgesicht, das selbst unschuldige Gemüter sofort mit abartigen sexuellen Praktiken in Verbindung bringen mussten. Jianna dachte mit Entsetzen an fingerlose Handschuhe und Klebstoff, bevor sie die blinde Flucht ergriff. Im selben Moment schien es unten auf dem Feld für die in diesem Block favorisierte Mannschaft gut loszugehen, denn zwei Drittel des Publikums sprangen auf und machten so viel Krach, wie sie in ihrem angetrunkenen Zustand zustande brachten. Pikmo nutzte diese optoakustische Deckung, um Jianna unauffällig zu folgen. Eine Mannschaft hatte beim Anstoß den Stock an sich reißen können. Die Verfolger teilten sich auf, um Pikmo und Jianna die Wege zu den Ausgängen abzuschneiden. Die blonde Visage samt dicklichem Körper darunter bewegte sich mit einer für diese Statur erstaunlichen Geschwindigkeit und erreichte vor Jianna eine der nach draußen führenden Treppen zwischen den Sitzplätzen. Die Verfolgte wechselte von der geplanten Richtung zum Ausgang in eine wahllose, Hauptsache weg von ihm. Es war eine automatische, unbewusste Reaktion ohne große Planung. Sämtliche ihrer jetzt möglichen Ziele waren daher Sackgassen. Pikmos taktisches Planungswissen
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