Clemens Gleich
übernahm die Kontrolle. Er packte Jianna unsanft am Arm und zog sie hinter sich her die Stufen nach unten – direkt auf den Blonden zu. Der grinste dreckig und schob eine Hand in die Tiefen seines Umhangs. Scheinbar ohne sich um die dazwischenliegende Entfernung zu kümmern, stand Pikmo noch im selben Augenblick direkt an ihm. Das Grinsen schmolz, als Pikmos Faust seine Magengrube gegen sein Herz hämmerte, zu einem Ausdruck belämmerter Ungläubigkeit, bevor er flehentlich augenrollend zusammensank. Auf dem Platz hatte gerade der Spieler im Stockbesitz einen kleinen Mann derb in die Nieren geschlagen. Das Publikum honorierte das mit lauten Beifallsbekundungen. Selbst über diesen Lärm konnte Jianna das trockene Knirschen ausmachen, das die Knie Pikmos' Konkurrenten beim Kontakt mit den steinernen Stufen machten. Sie war allerdings weder zu sonderlich viel Mitgefühl aufgelegt, noch in ihrem Adrenalinrausch dazu überhaupt in der Lage. In diesem Augenblick war das Geräusch der brechenden Kniescheibe eher ein hoffnungsvolles. Sie fand keine Gelegenheit, über die physikalischen oder motorischen Implikationen Pikmos Ausfalls nachzudenken, sondern tat das Naheliegendste, Einfachste: folgen, schnell. Offenbar hatte keiner der Ordner die Jagd registriert, denn sie erreichten ohne weitere Gegenwehr den Stadionboden, wo sich die meisten Ausgänge befanden. Plötzlich erfüllte ein ohrenbetäubendes "Pah-Ooh!!" die Luft; das halbe Stadium sprang schreiend auf. Jianna hatte mangels Regelkenntnis keine Ahnung, was passiert war, aber es war in jedem Fall gut für sie: Sie waren unsichtbar für die Fans, weil es außerhalb deren Vorstellungsvermögen lag, dass jemand in so einem Augenblick ging, und sie waren unsichtbar für die Kopfgeldjäger, weil ihnen herumspringende Fans die Sicht versperrten.
Pikmo und Jianna stürmten hinaus in die laue Nacht, ein paar Stufen hinab auf einen großen Schotterplatz, der voll war von Wagen aller Art. Viele Zuschauer waren mit Kutschen angereist, gezogen von Pferden oder obskureren Reittieren samt passenden Geschirren oder Gestellen. Bedienstete versorgten die Tiere an den Trögen. Einige Automobile waren zu sehen, darunter auch ein riesiger, dreistöckiger Gelenkbus in bunter Kriegsbemalung, der entweder einem gut betuchten Fanclub, einer Mannschaft oder beiden gehörte. Ein Stahlmuli der imperialen Wache prangte inmitten des Fahrzeugpöbels. Es erweckte den überzeugenden Eindruck, die Szenerie mit einer kühlen Überheblichkeit zu beobachten, wie sie nur unverhältnismäßige Bewaffnung vermitteln kann. Pikmo verfiel sofort in einen normalen, schlendernden Gang, der sie im Sichtschutz von Tieren und Geräten auf den Fußgängerweg am Rande des Platzes führte. Obwohl sich Jianna bewusst war, wie verdächtig das wirken musste, konnte sie nicht aufhören, immer wieder nervöse Blicke in Richtung Truppentransporter zu schicken. Nichts rührte sich dort. Hoffnung rührte sich in Jianna. Wahrscheinlich war die Besatzung drinnen, um für Ordnung zu sorgen. Oder sie schlief. Jeder musste doch mal schlafen.
Vielleicht hatte Jianna recht, vielleicht hatte sie Glück, auf jeden Fall trabte sie wenig später neben Pikmo eine dunkle Straße entlang, ohne wahrnehmbare Verfolger. Das war schonmal ziemlich gut. Weniger gut sah es um die Kondition der jungen Frau aus. Sie war zwar einigermaßen fit zu Fuß, aber keinesfalls in der Lage, das gegenwärtige Fluchttempo lange zu halten. Obendrein würde sich die Straße spätestens nach Ende des Spiels wieder füllen, und der daher zwangsläufig folgende Dauerlauf querfeldein erfüllte ihre bleiernen Beine jetzt schon mit blankem Horror. Sie folgte in vollstem Vertrauen Pikmo ins Strauchwerk abseits der Straße, als er sie mit einer sparsamen Prankengeste dazu aufforderte. Erleichtert hockte sie sich auf die immer noch sonnenwarme Bodenkruste und lauschte. Tatsächlich konnte sie nach kurzer Zeit schon ein Wummern hören, das bald darauf von einem metallischen Schwirren begleitet wurde – ein Motorfahrzeug. Jianna reckte ihren Hals über ihren Busch und konnte einen einzelnen Scheinwerfer ausmachen, der den Staub der Straße streichelte. Obwohl auf dem Parkplatz einige größere Kaliber wie etwa der Mannschaftsbus herumgestanden hatten, erfüllte sie dieses nächtliche Einspurfahrzeug wegen seiner schieren Seltenheit und der zugehörigen Kaufkraft, die es erfordert haben musste, mit der ihr anerzogenen Ehrfurcht vor großem Geld. Großes Geld musste
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