Clemens Gleich
imperialen Streitkräfte allgemein als Transporter für Truppen oder Material in unwegigem Terrain. Jianna fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand einen Barren Eis auf den Rücken geschlagen. Das Militär! Eine Handvoll junger Soldaten schirmte die Platzmitte gegen die drängelnden Menschen ab, wobei sie sehr wichtig taten, wie man es häufig bei erst kurz Uniformierten beobachten kann. Pikmos Abbild hing direkt über dem Obelisken und tat gar nichts außer leuchten. Die Menge diskutierte lebhaft, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hatte. Die Stimmung war eigentümlich fröhlich, denn in Nirgendsrothof passierte sonst nie etwas von Bedeutung. Das hier roch förmlich nach der großen, weiten und offiziellen Welt, die es endlich in die Rote Ebene geschafft hatte. Plötzlich erschien eine Stimme des Ministeriums aus leerer Luft und hing in ebensolcher neben dem steinernen Marktmittelpunkt. Unter dem und über das Visier hingen lange rote Haare. Es wurde still. Es war die normale Reaktion gegenüber den Stimmen. Papierkügelchen werfen würde hier niemand wagen.
"Bürger von Nirgendsrothof", begann die Stimme: weiblich, warm, ohne an Exaktheit zu verlieren, deutlich, doch ohne Leiern, ein Produkt rhetorischen Talents, langen Trainings oder beidem. Sie sprach laut und verständlich, ohne jede erkennbare akustische Verstärkung. Die war gar nicht nötig, denn in der Zuhörerschaft hätte man eine Stecknadel fallen gehört. Die weit entfernt am Rand Stehenden wagten kaum zu atmen, aus Furcht, sie könnten etwas verpassen.
"Die imperiale Wache sucht diesen Felligen." Die Stimme wies mit dem Arm auf das blaue Hologramm über ihr. "Er wurde gestohlen. Den größten Bemühungen der imperialen Biotechniker zum Trotz scheint es außerdem, dass dieser Fall einen Defekt aufweist. Er ist das erste Exemplar der fünften Generation und als solcher kann er eventuell Verhaltensweisen und Fähigkeiten zeigen, die man vorher nicht von Felligen kannte. Wir stufen ihn als gefährlich ein. Die Diebin..." – bei diesem Satz wandelte sich Pikmos Bild am Himmel zu Jianna – "...handelt aus unbekannten Motiven, und ist daher ebenfalls mit Vorsicht zu konfrontieren."
Bei diesen Worten erstarrte Jiannas Blick. Am Ufer ihres Bewusstseins bekam sie die neuen Bilder mit, die den Nachthimmel bewegten: Ein lädierter Milo beim Verhör; ihr Vater, von zwei Wächtern aus dem Haus geführt; Untersuchungsbeamte in der Kanalisation; ein Truppentransporter voll schwer bewaffneter Soldaten. Der Rest Jiannas Wesens jedoch war stürmische See, in der jegliches Wort der Erläuterung einfach im Tosen unterging. Langsam, unaufhaltsam gefror ihr innerer Tumult zu wütender Entschlossenheit. Sie schob ihr Kinn vor, signalisierte Pikmo, ihr zu folgen und bahnte sich ihren Weg aus der Menge, aus der Stadt. Den kürzesten. Der offensichtliche Aufwand, der hier betrieben wurde, ängstigte sie in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht etwa, sondern bestärkte sie in ihren Absichten. Sie würde es denen schon zeigen. Sie würde die Verschwörung aufdecken und das Ministerium bloßstellen, jawohl!
Folgsam trottete Pikmo hinter seiner temporären Herrin her. In seiner Nase kam sie momentan als verwirrte, seltsame Mischung aus Angst und Angriffslust an. Ihre vorherige dilettantische Vorsicht vor eventueller Entdeckung war einer geistesabwesenden Zielstrebigkeit gewichen, die sie aus der Stadt führte. Pikmo fragte sich, ob sie eigentlich bemerkt hatte, dass sie seit ihrer Flucht vom Marktplatz verfolgt wurden. Er kam zu keiner Antwort und gab die Frage daher an Jianna weiter.
"Was?", fragte sie mit zorngeröteten Backen. "Wieso sagst du nicht sofort was, wenn du sowas merkst?" Sie hob abwehrend die Hand im Weiterlaufen. "Sag nichts. Deine komischen Gründe regen mich nur auf." Innerlich ging sie die Möglichkeiten durch. War das die Wache? Nein, die würden sich zu erkennen geben und einfach zugreifen. Es könnten Kopfgeldjäger sein. Eine Lizenz zu bekommen war nach imperialem Recht nicht schwer. Oder Räuber. Sie war wenig erpicht, das Berufsbild der Verfolger im direkten Kontakt herauszufinden, deshalb schlug sie den Weg der meisten Menschen ein, in der Hoffnung, im Getümmel unterzugehen. Irgendetwas Größeres schien heute Abend los zu sein, die Masse hatte ein gemeinsames Ziel, gruppenweise gemeinsame Farben und es roch nach Alkohol. Vereinzelt trug jemand Musikinstrumente, die weniger für feinen Klang als vielmehr für maximalen Schalldruck ausgewählt
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