Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
Colin. »Aber ich habe mit dem Herrscher gesprochen, und seine Haltung ist eindeutig. >Mein Sohn ist gestorben<, hat er gesagt, >ist das ein Grund, die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie jeden Tag, den wir den Tiger am Leben lassen, die Söhne und Töchter meines Volkes getötet werden?< Er hat natürlich vollkommen Recht. Jeden Tag sterben drei oder vier Menschen in den Dörfern im Norden. Die Leute haben Angst, ihre Häuser zu verlassen. Aber die Felder müssen bewirtschaftet, das Vieh versorgt werden. Die Jagd muss also weitergehen, und das so schnell wie möglich. Normalerweise werden die Tore der Stadt während der Trauer geschlossen, und die Leute müssen in ihren Häusern bleiben, aber der Herrscher hat allen Dispens erteilt, um wie üblich weiterzumachen. Sie werden feststellen, dass das ganz typisch für Udai ist. Ich kenne ihn seit Jahren, und ich kann Ihnen versichern, hinter all dem östlichen Mumpitz und der Schicht westlicher Blasiertheit steckt die wahre Kraft, die ihn antreibt, und das ist die Sorge für sein Volk. Sie werden hören, dass man ihn >Bappa< nennt. Das bedeutet >Va-ter<, und er nimmt diese Bezeichnung Ernst.«
Joe entdeckte Edgar am Rand der Gästegruppe.
Edgar beobachtete sein Gespräch mit O’Connor, fuhr sich mit dem Finger in den Kragen, der - wie der Rest seiner Garderobe - an den Nähten zu platzen schien, und nickte Joe zu. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und ihm war offensichtlich unbehaglich zumute. Der Grund für dieses Unbehagen schien eine kleine Frau zu sein, die ihn in eine Ecke gedrängt hatte und ihm offenbar einen Vortrag hielt.
Colin O’Connor folgte Joes Blick und lachte auf. »Sollen wir den armen Edgar erlösen?«, fragte er.
»Mit wem unterhält er sich da?«, wollte Joe wissen.
»Das ist Lizzie Macarthur, die ihm da in den Ohren liegt«, sagte O’Connor.
»Miss Macarthur? Sie meinen Bahadurs Kindermädchen?«
»Ja. Wie ich sehe, haben Sie schon ein wenig he-rumgeschnüffelt? Das Dickicht des Palastdschungels gelichtet? Vorsicht, Sandilands! Wer weiß, welch merkwürdige Vögel Sie dabei aufschrecken! Lizzie ist königliches Kindermädchen, die Cousine des vorletzten Vizekönigs, glaube ich. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn sie heute Abend nur wegen der Tischordnung eingeladen wurde. Wir setzen uns mit sechs Herren und vier Damen zu Tisch. Ich wette, die Vyvyans haben ziemlich lange auf ihrem Bleistift herumgekaut, bis die Sitzverteilung stand! Die Geschlechter, die Verheirateten, die Geschwister und all die Leute trennen, die sich gegenseitig an den Hals gehen - da bleibt einem nicht viel Spielraum.«
»Nur wegen der Tischordnung eingeladen?«, fragte Joe. »Das ist kaum fair.«
»Üblicherweise wird sie zu Festen, bei denen bis zu einhundert Gäste anwesend sein können, nicht eingeladen, aber bei kleinen Abendgesellschaften wie dieser muss sie einspringen. Doch verschwenden Sie kein Mitleid für Lizzie! Kommen Sie, lernen Sie sie kennen.«
Sie durchquerten den Saal und traten auf das unpassende Pärchen zu. Die zierliche Lizzie Macarthur war winzig und befand sich irgendwo in dieser unbestimmbaren Phase mittleren Alters. Das dichte, braune Haar war kurz geschnitten, mit einem üppigen Pony, der ein rosafarbenes, erzürntes Gesicht umrahmte. Sie trug ein sittsames, altmodisches Kleid, das dunkelblau oder dunkelgrün oder sogar ein verblasstes Schwarz sein mochte.
Ohne darauf zu warten, vorgestellt zu werden, sprach sie Joe an. »Commander, darf ich das so verstehen, dass Sie auf diesen Gentleman hier einen gewissen Einfluss ausüben?«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ, dass sie Edgar für alles andere als einen Gentleman hielt.
»Du meine Güte, nein! Wenn Sie ein Problem mit Edgar haben, dann ist Ihre einzige Zuflucht Sir George Jardine, der bekannt dafür ist, schon manchen wilden Kerl gefügig gemacht zu haben.«
Joe bemerkte, wie ein Mundwinkel von Miss Ma-carthur zuckte und das nicht unfreundlich. »Sir George lässt Sie übrigens herzlich grüßen«, log Joe, sah seinen Vorteil und nützte ihn aus. »Edgar, womit um alles in der Welt haben Sie Miss Macarthur beleidigt? Lassen Sie mich raten - sie musste Ihre Ansicht korrigieren, dass Robert Burns womöglich nicht der begnadetste Dichter der Welt ist?«
»Ich darf Ihnen versichern, dass unsere Auseinandersetzung weitaus schwerwiegender ist! Ihr Freund hat mir soeben mitgeteilt, dass er die Schulbildung für Mädchen ablehnt!«
»Aha«, sagte Joe
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