Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
auch nicht. Joe fand, wenn er den Rest seines Lebens in diesem hübschen Haus zubringen müsste, könnte er sich glücklich schätzen. Nach indischen Maßstäben waren die Räume in der Tat klein, aber Lois hatte sich passenderweise entschieden, sie spartanischer als im üblichen westlichen Stil einzurichten und sie nicht mit übergroßen Dunkelholz-Relikten des viktorianischen Zeitalters vollzustellen. Untypisch für eine Memsahib hatte sie auch ein paar kunsthandwerkliche Gegenstände aus Indien verteilt; auf dem niedrigen, weißen Sofa häufte sich ein Berg von Seidenkissen in Limonengrün, Purpur und Magentarot, und der Stolz des Raumes war ein weiß gestrichener Flügel.
Joe ging hinüber und schlug einige Tasten an. »Spielen Sie, Mrs. Vyvyan?«
»Ja.« Sie lächelte. »Nicht sehr gut, aber offenbar besser als Sie. Was war das? Ich habe es nicht erkannt.«
»Ich fürchte, nicht einmal der Komponist hätte es erkannt«, erwiderte Joe. »>Elite Syncopations<. Scott Joplin .«
»Aha. Ich kenne mich mit Jazz leider nicht aus.« Ihr Tonfall ließ durchblicken, dass sie eine Kenntnis auch nicht anstrebte.
Joe richtete seine Aufmerksamkeit auf die gerahmten Fotos, die methodisch geordnet auf dem Flügel aufgereiht waren. Einige in Sepia, andere in Schwarzweiß, allesamt formelle Porträts. Ganz vorn in bester Stellung befand sich ein Angehöriger des Militärs, der Lois so sehr ähnelte, dass Joe ohne zu zögern fragte: »Ihr Vater?«
Sie lächelte traurig. »In Frankreich gefallen. Er hätte schon vor Jahren in den Ruhestand gehen sollen, aber Sie wissen ja, wie es mit Militärs ist, Commander.« Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Wenn Ihr Land Sie braucht, dann stellen Sie sich zur Verfügung. Und mein Vater war durch und durch ein Militär.«
Ihr Stolz war augenscheinlich. Joe betrachtete die Uniform genauer, versuchte, den Rang zu erkennen. »Brigadegeneral? Ihr Vater hat sich gut geschlagen.«
»Bei allem, was er tat«, lautete die knappe Antwort.
Joes Blick wurde von einem Detail auf der Uniform des Brigadiers gefangen genommen. Er wandte sein Gesicht von Lois ab, nicht bereit, sein Interesse und seine Überraschung zu offenbaren. Hatte er richtig gesehen? Diskret überprüfte er erneut. Ja, das Ehrenzeichen war klein, ließ sich aber nicht missdeuten.
Er hätte etwas dazu sagen können, hätte ein verständiges Interesse an dem Kranz aus Eichenblättern, der die Buchstaben RFC umgab, bekunden können, aber aus einem Impuls heraus beschloss er, diese Beobachtung für sich zu behalten. Es reichte zu wissen, dass Lois es keinen Kommentars für würdig erachtete.
»Ihr Rang fasziniert mich«, setzte Lois die Unterhaltung fort. »Commander? Das klingt irgendwie nach Marine.«
»Ja. Mit Absicht. Man soll davon beeindruckt sein. Man soll denken >Meine Güte! Wenn so ein junger und schneidiger Kerl den Rang eines Commanders erlangt hat, dann muss er über große Fähigkeiten verfügen und in der Truppe eine wichtige Position einnehmen.<«
Er hatte einen leichten, sich selbst nicht ganz ernst nehmenden Ton angeschlagen, aber Lois wartete wie immer mit einer bissigen Bemerkung auf. »Oder vielleicht denkt man ja auch >Hier ist ein junger Mann, der in die Schuhe eines Toten getreten ist Der Krieg schlug viele Lücken in die oberen Dienstgrade. Zu viele junge Colonels bei den Streitkräften, die noch grün hinter den Ohren sind. Vermutlich ist es bei der Polizei genauso?«
Während seiner gesamten Zeit in Indien war Lois Vyvyan die Erste, die ihn nach seinem Rang befragte.
Sie schien ehrlich interessiert und gut informiert, wenn auch aufreizend taktlos. Wollte sie ihn absichtlich aus der Fassung bringen? Joe wurde stark an den kleinen Angus-Terrier erinnert, den er vor dem Krieg besessen hatte. Der Hund hatte Fremde gehasst. Er hatte sich ihnen schwanzwedelnd und mit allen Anzeichen guter Laune genähert, aber just in dem Augenblick, wenn eine Hand freundschaftlich ausgestreckt wurde, zwickte er mit seinen kleinen Zähnen heimtückisch hinein. Joe wusste, dass der Hund nicht anders konnte. Er wollte die Fremden herzlich begrüßen, er wusste, er sollte freundlich sein, aber er musste einfach zuerst zubeißen.
»Tja, ich verließ die Armee als Major, der grün hinter den Ohren war«, sagte Joe. »Und da ich kein eingefleischter Soldat war, stimmte ich nur allzu gern einem Transfer zur Polizei zu.«
»Merkwürdige Entscheidung, nicht?«, meinte Lois. »Hat Ihnen niemand davon abgeraten? Auf Streife
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