Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
waren. Und Tessa … Tessa, die nicht sprach, die nicht aufwachen wollte und von den Brüdern der Stille sofort in ihr Zimmer gebracht worden war, wo man ihn nicht zu ihr ließ. Da er weder ihr Bruder noch ihr Ehemann war, konnte er nur hilflos dastehen und ihr nachschauen, mit blutbeschmierten Händen, die sich unwillkürlich zu Fäusten ballten. Nie zuvor hatte er sich so ohnmächtig gefühlt.
Und als er sich auf die Suche nach Jem gemacht hatte, um mit dem einzigen Menschen auf Erden, der Tessa genauso liebte wie er selbst, seinen Kummer und seine Sorgen zu teilen, hatte er sich daran erinnern müssen, dass Jem gegangen war – zurück zur Stadt der Stille, auf Anweisung der Bruderschaft. Einfach gegangen, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden.
Obwohl Cecily versucht hatte, Will zu besänftigen, war er furchtbar wütend gewesen: auf Jem, auf die Kongregation und auf die Stillen Brüder, weil sie Jem erlaubt hatten, der Bruderschaft beizutreten. Dabei wusste Will ganz genau, dass das unfair war, da Jem sich schließlich selbst dafür entschieden hatte und dies die einzige Möglichkeit gewesen war, sein Leben zu retten. Trotzdem fühlte Will sich seit der Rückkehr zum Institut die ganze Zeit wie seekrank – wie ein Schiff, das jahrelang vor Anker gelegen hatte und nun losgelöst mit den Gezeiten dahintrieb, ohne die geringste Ahnung, in welche Richtung es steuern sollte. Und Tessa …
Das Geräusch von reißendem Papier unterbrach seine Grübeleien: Charlotte hatte den Brief geöffnet und las ihn, wobei sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht zu weichen schien. Dann schaute sie hoch und starrte den Inquisitor an. »Ist das vielleicht eine Art Scherz?«
Whitelaw runzelte die Stirn. »Es ist kein Scherz, das kann ich Ihnen versichern. Und, wie lautet Ihre Antwort?«
»Lottie«, wandte Henry sich an seine Frau; selbst seine roten Haarbüschel strahlten Sorge und Liebe aus. »Lottie, worum geht es? Was ist passiert?«
Charlotte sah erst ihn und dann wieder den Inquisitor an. »Nein«, erwiderte sie. »Darauf habe ich keine Antwort. Noch nicht.«
»Die Kongregation wünscht keine …«, hob Whitelaw an, schien dann aber Will zum ersten Mal zu bemerken. »Wenn ich Sie wohl unter vier Augen sprechen dürfte, Charlotte«, sagte er.
Doch Charlotte richtete sich kerzengerade auf. »Ich werde weder Henry noch Will aus dem Raum schicken.«
Die beiden warfen sich einen kurzen Blick zu. Will wusste, welche Sorge Henry beherrschte. In den Wirren nach Charlottes Auseinandersetzung mit dem Konsul und dessen Tod hatten alle Institutsbewohner angespannt auf eine Nachricht von der Kongregation gewartet, auf eine Art ausgleichende Strafe. Und nun schien das Ende von Charlottes Institutsleitung gefährlich nahe zu sein; Will konnte es am leichten Zittern von Charlottes Händen erkennen und dem entschlossenen Zug um ihren Mund.
Plötzlich wünschte er, Jem oder Tessa wären hier – jemand, mit dem er reden konnte, jemand, den er fragen konnte, wie er Charlotte, der er so viel verdankte, helfen sollte. »Ist schon in Ordnung«, sagte er und erhob sich. Alles drängte ihn zu Tessa – selbst wenn sie ihre Augen nicht öffnen, ihn nicht wiedererkennen würde. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Will …«, protestierte Charlotte.
»Es ist wirklich in Ordnung, Charlotte«, wiederholte Will, schob sich an dem Inquisitor vorbei und ging zur Tür. Als er kurz darauf auf dem Korridor stand, lehnte er sich einen Moment an die Flurwand, um sich zu sammeln. Unwillkürlich musste er an seine eigenen Worte denken – Gott, das schien eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen und klang nun alles andere als lustig: Der Konsul? Taucht hier zum Frühstück auf? Was kommt denn als Nächstes? Der Inquisitor zum Tee?
Was wäre, wenn man Charlotte das Institut wegnahm …
Wenn sie alle ihr Zuhause verloren …
Wenn Tessa …
Will konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Tessa würde überleben. Sie musste einfach weiterleben. Als er sich entschlossen in Bewegung setzte, sah er vor seinem inneren Auge die blauen, grünen und grauen Farben der walisischen Landschaft. Wenn sie das Institut verloren, konnte er ja vielleicht mit Cecily dorthin zurückkehren, um in ihrer Heimat irgendwie ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Natürlich würde das kein Schattenjägerleben sein, aber ohne Charlotte, Henry, Jem oder Tessa, ohne Sophie oder sogar ohne die verflixten Lightwoods wollte er auch gar kein Schattenjäger mehr sein. Sie alle waren nun seine
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