Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
der Lage. Jems Anblick unter dem Cadair Idris war wie ein Schock gewesen, ein schreckliches und zugleich wundervolles Leuchten, das durch seinen ganzen Körper gegangen war – Jem lebte, aber er hatte sich verändert. Er lebte, war jedoch für immer verloren.
»Aber …«, setzte Will an, »du bist doch hier, um Tessa zu besuchen.«
Jem musterte ihn ruhig. Seine Augen schimmerten grauschwarz, wie Schiefer mit dunklen Obsidian-Einschlüssen. »Und du hast nicht gedacht, dass ich die Gelegenheit, jede sich bietende Gelegenheit, dazu nutzen würde, auch dich zu sehen?«
»Ich war mir nicht sicher. Nach der Schlacht bist du einfach gegangen, ohne ein Lebewohl.«
Jem bewegte sich in den Raum hinein. Will spürte, wie er erstarrte. Etwas Seltsames, zutiefst Fremdes ging von Jems Bewegungen aus: Dies war nicht mehr der elegante Schattenjägergang, den Will durch jahrelanges Training zu kopieren gelernt hatte, sondern etwas Eigentümliches, Unbekanntes und Neues.
Jem musste eine Veränderung in Wills Gesicht bemerkt haben, denn er hielt abrupt inne. »Wie könnte ich dir Lebewohl sagen?«
Will ließ das Messer aus der Hand gleiten. Es bohrte sich mit der Spitze in das Holz des Parkettbodens. »So wie alle Schattenjäger? Ave atque vale. Und in Ewigkeit sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder.«
»Aber das sind die Worte des Todes. Catull sprach sie am Grab seines verstorbenen Bruders, oder nicht? Multas per gentes et multa per aequora vectus advenio has miseras, frater, ad inferias …«
Will kannte die Worte. Viele der Länder und viele der Meere nun hab ich durchfahren, Ziel meiner Reise ist dies, Bruder: der traurige Kult, dass ich dich zuallerletzt mit der Totengabe beschenke. Und in Ewigkeit sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder. Verwundert starrte er Jem an. »Du … hast das Gedicht auf Latein auswendig gelernt? Aber du hast dir doch immer Musik besser merken können als Worte …« Er verstummte und lachte dann kurz: »Ach, schon gut. Die Rituale der Bruderschaft dürften auch das geändert haben.« Er wandte sich ab, ging ein paar Schritte und wirbelte dann wieder zu Jem herum. »Deine Geige ist im Musikzimmer. Ich war davon ausgegangen, dass du sie mitnehmen würdest … dir hat doch immer so viel an ihr gelegen.«
»Wir dürfen keine persönlichen Dinge in die Stadt der Stille mitbringen, nichts außer unserem Körper und unserem Verstand«, erwiderte Jem. »Ich habe die Geige hiergelassen … für zukünftige Schattenjäger, die vielleicht darauf spielen wollen.«
»Dann also nicht für mich.«
»Es wäre mir eine Ehre, wenn du sie an dich nehmen und sie pflegen würdest. Aber ich habe etwas anderes speziell für dich zurückgelassen: In deinem Zimmer findest du mein Yin-Fen -Kästchen. Ich dachte, dass du es vielleicht haben möchtest.«
»Das ist ein sehr grausames Geschenk«, entgegnete Will. »Ein Geschenk, das mich immer daran erinnert …« Wodurch du mir genommen wurdest. Was dir solche Qualen bereitet hat. Was ich gesucht, aber dann doch nicht gefunden habe. Wie sehr ich dich im Stich gelassen habe.
»Aber nein, Will«, widersprach Jem sofort, der Will – wie stets – auch ohne Worte verstand. »Das Kästchen hat nicht immer meine Arznei enthalten. Es hat mal meiner Mutter gehört. Auf dem Deckel ist die Göttin Guanyın abgebildet. Es heißt, als sie starb und die Tore des Paradies erreichte, hielt sie inne. Und als sie die Schreie der Qual leidenden Seelen hörte, die aus der Menschenwelt zu ihr hinaufdrangen, brachte sie es nicht übers Herz, sich von ihnen abzuwenden. Sie blieb, um den Sterblichen zu helfen, wenn diese sich nicht selbst helfen können. Sie ist die Trösterin aller leidenden Herzen.«
»Ein Kästchen wird mich nicht trösten.«
»Veränderung muss nicht immer auch Verlust bedeuten, Will.«
Will fuhr sich mit den Händen durch die verschwitzten Haare. »Oh ja«, erwiderte er bitter. »Möglicherweise in einem anderen Leben, jenseits dieser Existenz, wenn wir den großen Fluss überquert haben oder sich das Rad des Lebens gedreht hat oder wie auch immer du es sonst beschreiben willst, dass du aus dieser Welt scheidest … vielleicht werde ich dann ja meinen Freund, meinen Parabatai wiederfinden. Doch jetzt habe ich dich erst einmal verloren – jetzt, da ich dich dringender brauche denn je!«
Jem hatte den Saal durchquert wie ein flüchtiger Schatten, mit der Anmut der Stillen Brüder, und stand nun neben dem Kamin. Der schwache Feuerschein beleuchtete sein Gesicht
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