Clovis Dardentor
nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, denn
es handelte sich ja nicht darum, alle Ecken und Winkel des
altertümlichen Bauwerks zu durchstöbern, sondern nur die
Aussicht bis zum fernen Horizont zu genießen.
Nach flüchtiger Besichtigung einiger Zimmer im Erdge-
schoß, fragte Clovis Dardentor:
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»Nun, meine jungen Herren, wollen wir hinaufklet-
tern?«
»Ganz wie Sie wünschen«, antwortete Marcel Lornans,
»nur kein zu langer Aufenthalt. Es wäre doch arg, wenn
Herr Clovis Dardentor, nachdem er schon einmal die Ab-
fahrt der ›Argèlès‹ verfehlt hatte . . .«
»Jetzt zum zweiten Mal zu spät käme!« fiel der Perpigna-
neser lachend ein. »Nein, das wäre um so unverzeihlicher,
da ich in Palma keine Schaluppe fände, um dem Dampfer
nachzueilen. Oh, was sollte dann aus dem armen Désiran-
delle werden?«
Die Gesellschaft begab sich also nach dem Huldi-
gungsturm, der durch zwei Zugbrücken mit dem Castillo
in Verbindung stand.
Dieser runde und sehr massive, aus Backsteinen von
warmer Färbung erbaute Turm steht mit dem Fuß im Wall-
graben. Seine südwestliche Seite ist in der Höhe der Gra-
benkante von einem rötlichen Tor durchbrochen. Darü-
ber befindet sich ein Rundbogenfenster und über diesem
wieder ein paar drohende Schießscharten. Nachher folgen
nach oben hin die Mauervorsprünge, die die Brustwehr der
Plattform tragen.
Dem Führer nachgehend, erstiegen Clovis Dardentor
und seine Begleiter eine in der Mauer ausgesparte und durch
die erwähnten Schießscharten spärlich beleuchtete Wendel-
treppe. Diese führte ziemlich steil hinauf und reichte bis zur
Plattform selbst.
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Der Führer hatte in der Tat nicht übertrieben. Von dieser
Höhe aus bot sich eine überraschend prächtige Aussicht.
Vom Fuß des Castillo an fällt der, mit schwarzem Mantel
von Aleppopinien bedeckte Hügel ab. Weiterhin taucht das
Bild der reizenden Vorstadt Terreno auf. Tief unten glitzert
die bläuliche Bai, da und dort von weißen Punkten unter-
brochen, die man für Seevögel halten möchte, die aber nur
die Segel flinker Tartanen sind. Noch weiter hin zur Seite
zeigt sich die amphitheatralisch gelegene Stadt mit ihrer Ka-
thedrale und übrigen Kirchen; ein glänzendes Gesamtbild,
gebadet in der leuchtenden Atmosphäre, die die goldenen
Strahlen der Sonne, wenn sie nach dem Horizont hinab-
sinkt, blendend durchflimmern. Ganz draußen lag endlich
das unbegrenzte Meer, da und dort belebt von Fahrzeugen
mit weißem Segelwerk oder von Dampfern, die ihre langen
dunklen Rauchsäulen am Himmel hinzogen. Von Menorca
im Osten und von Ibiza im Südwesten war nichts zu sehen;
im Süden dagegen erblickte man doch die steile Insel Ca-
brera, wo so viele Franzosen in den Kriegen des ersten Kai-
serreichs gar elend umkamen.
Vom Turm des Castillo de Bellver aus gesehen gewinnt
man durch einen Blick nach Norden eine Vorstellung da-
von, was Mallorca ist, die einzige Insel des Archipels näm-
lich, die wirkliche Sierras (Höhenzüge) mit immergrünen
Eichen und Nesselbäumen besitzt, zwischen denen Por-
phyr-, Grünschiefer- und Kalksteinnadeln emporragen.
Auch die vorgelagerte Ebene zeigt viele Einzelhöhen, auf
den Balearen »Puys« genannt, von denen fast jede mit ei-
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nem Schloß, einer Kirche oder einer Eremitage besetzt ist.
Hierzu kommen noch rauschende Bergbäche in vielfachen
Windungen, wovon es nach Aussage des Führers auf der In-
sel über 200 geben soll.
»Für Herrn Dardentor 200 Gelegenheiten, hineinzufal-
len«, dachte Jean Taconnat, »wir werden aber sehen, daß
er dieses Kunststück auch nicht ein einziges Mal fertig-
bringt!«
An die neueste Zeit erinnerte in dem Landschaftsbild
nur die Eisenbahn, die durch den inneren Teil von Mal-
lorca führt. Sie verläuft von Palma nach Alcudia durch die
Bezirke von Santa-Maria und Benisalem, und man spricht
davon, ihr Zweigstrecken durch die malerischen Täler der
Bergkette anzugliedern, die ihre höchsten Spitzen bis zu
1000 Metern über dem Meer emporsendet.
Nach seiner Gewohnheit geriet Clovis Dardentor bei Be-
trachtung des herrlichen Bildes geradezu in Begeisterung.
Marcel Lornans und Jean Taconnat teilten übrigens diese
ganz gerechtfertigte Bewunderung. Es war wirklich schade,
daß der Aufenthalt im Schloß Bellver nicht verlängert wer-
den konnte und eine spätere Rückkehr hierher ausgeschlos-
sen war, da die ›Argèlès‹ schon in wenigen Stunden
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