Clovis Dardentor
weiter-
fahren sollte.
»Ja, wahrhaftig«, erklärte der Perpignaneser, »hier lohnt
sich ein Aufenthalt von Wochen . . . Monaten . . .«
»Oh«, meldete sich der Führer, dem es an Anekdoten
nicht zu fehlen schien, »das ist einem Ihrer Landsleute,
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meine Herren, freilich etwas gegen seinen Willen, wider-
fahren . . .«
»So? . . . Und wie hieß er?«
»François Arago.«
»Arago! . . . Arago!« rief Clovis Dardentor. »Eine der
Leuchten des gelehrten Frankreich!«
Tatsächlich war der berühmte Astronom im Jahr 1808
nach den Balearen gekommen, um die Messung eines Meri-
dianbogens zwischen Dünkirchen und Formentera zu voll-
enden. Von der mallorquinischen Bevölkerung verdäch-
tigt und sogar mit dem Tod bedroht, wurde er im Schloß
Bellver 2 Monate lang gefangengehalten, und diese Gefan-
genschaft hätte gewiß noch weit länger gedauert, wenn es
ihm nicht gelungen wäre, durch ein Fenster des Castillo zu
flüchten und eine Barke zu mieten, die ihn nach Algier hi-
nüberfuhr.
»Arago«, wiederholte Clovis Dardentor, »der weltbe-
rühmte Sohn von Estagel, das ruhmreiche Kind des Arron-
dissements meines Perpignan, meiner Ostpyrenäen!«
Inzwischen drängte die Zeit zum Verlassen der Platt-
form, von der aus man, wie vom Nachen eines Luftschiffs,
das unvergleichlich schöne Land überblickte. Clovis Dar-
dentor konnte sich von dem Bild vor ihm kaum abwenden
. . . noch immer lief er hin und her und beugte sich überall
über die Brustwehr hinaus.
»Nehmen Sie sich in acht«, rief ihm Jean Taconnat zu
und hielt ihn dabei am Kragen des Jackets zurück.
»In acht nehmen?«
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»Gewiß . . . etwas mehr . . . Sie wären bald hinunterge-
stürzt! . . . Warum wollen Sie uns einen solchen Schreck ein-
jagen . . .«
Ein sehr legitimer Schreck, denn wenn der ehrenwerte
Mann über die Brustwehr gepurzelt wäre, hätte Jean Ta-
connat dem Fall des Adoptivvaters in den Wallgraben hin-
unter nur beiwohnen, jenem aber doch keine Hilfe bringen
können.
Höchst bedauernswert blieb es immer, daß die so spär-
lich bemessene Zeit einen eingehenden Besuch des herr-
lichen Mallorca unmöglich machte. Es genügt hier ja nicht,
die verschiedenen Viertel seiner Hauptstadt durchwandert
zu haben, man muß auch dessen andere Städte besuchen,
und würdigere, um Touristen anzulocken, als Soller, Ynca,
Pollensa, Manacor und Valldmosa dürfte es nirgends wie-
der geben. Und dann die natürlichen Höhlen von Arta und
von Drach, die für die schönsten der Erde gehalten werden,
mit ihren sagenreichen Seen, ihren Stalaktitenkapellen, ih-
ren Bädern mit klarem, frischem Wasser, mit ihrem Thea-
ter, ihrer Hölle usw. . . . freilich lauter Fantasiebezeichnun-
gen, die aber für die Wunder dieser großen unterirdischen
Welt ganz passend erscheinen.
Und was soll man von Miramar sagen, von dem unver-
gleichlichen Besitztum des Erzherzogs Ludwig Salvator,
von den tausendjährigen Wäldern, deren alten Bestand der
gelehrte und kunstliebende Fürst sorgsam erhalten läßt;
von seinem Schloß auf einer überhöhten Terrasse in rei-
zender Lage an der Küste von der »Hospederia«, dem auf
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Kosten Seiner Kaiserlichen Hoheit verwalteten Gasthaus,
das allen, die dort vorsprechen, 2 Tage lang Unterkunft und
Verpflegung unentgeltlich gewährt und wo selbst die, die
es wünschten, es vergeblich versuchen, sich durch ein Ge-
schenk an die Leute des Erzherzogs für die gastliche Auf-
nahme dankbar zu erweisen.
Einen Besuch verdient ferner die jetzt öde, stille, verlas-
sene Chartreuse de Valldmosa, wo Georges Sand und Cho-
pin eine Jahreszeit verlebten, ein Aufenthalt, dem die Welt
zwei weitbekannte Werke, »Ein Winter auf Mallorca« und
den merkwürdigen Roman »Spiridion« zu verdanken hat.
Das erzählte der Führer in seiner unversieglichen Red-
seligkeit und den stereotypen Sätzen, die seinem Cicero-
nengehirn nun einmal fest eingeprägt waren. Kein Wunder
also, daß Clovis Dardentor seinem Bedauern, diese Oase
des Mittelmeers verlassen zu müssen, den lebhaftesten Aus-
druck gab, daß er sich vornahm, mit den beiden jungen
Leuten und neugewonnenen Freunden hierher zurückzu-
kehren, wenn sie jemals Zeit dazu hätten . . .
»Es ist bereits 6 Uhr«, bemerkte Jean Taconnat.
»Ja, es ist schon 6 Uhr«, fügte Marcel Lornans hinzu, »wir
können die Rückkehr nicht länger aufschieben, da noch ein
Teil von Palma übrig ist, den wir besuchen
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