Clovis Dardentor
Seitengas-
sen flüchteten. Die boshaften Tiere sahen aus, als sagten sie
sich ins Ohr: Wir laufen, so weit es uns beliebt, und wenn
sie nicht kentert, dran und drauf mit der Galera!
Und mitten durch die Irrgänge, die sich in diesem Win-
kel der Stadt – ein richtiges Labyrinth – durchkreuzten, flog
das wilde Gespann mit verdoppelter Wut.
— 150 —
Aus dem Innern der Häuser, aus den Läden heraus rie-
fen die Leute aus vollem Hals um Hilfe. An den Fenstern
erschienen entsetzte Gesichter. Das ganze Stadtviertel war
in höchster Aufregung, wie einige Jahrhunderte früher, als
der Schreckensruf »Die Mauren kommen! . . . Die Mauren
kommen!« von Mund zu Mund flog. In den engen, gewun-
denen Straßen, die zum Teil nach der Calle des Capuchinos
ausmünden, konnte die Sache nicht ohne furchtbares Un-
glück ausgehen.
Clovis Dardentor bemühte sich inzwischen unablässig,
die tollen Maultiere zu zügeln. Um den unsinnigen Galopp
zu mäßigen, zerrte er an den Zügeln auf die Gefahr hin, sie
zu zerreißen oder sich die Arme auszurenken. In der Tat
war es aber das Gespann, das an ihm zog und ihn unter
unglücklichen Umständen aus dem Wagen zu schleudern
drohte.
»Oh, diese Spitzbuben, dieses Höllengespann!« sagte er
sich. »Ich sehe keinen Grund dafür, daß sie anhalten soll-
ten, solange sie noch vier Beine am Leib haben! . . . Und das
geht immer bergab . . . immer steil hinunter!«
Tatsächlich führte der Weg immer abwärts, vom Cas-
tillo de Bellver an bis zum Hafen hinunter, und die Galera
machte zuletzt vielleicht einen Kopfsprung ins Wasser der
Bai, was wenigstens die Maultiere abzukühlen versprach.
Kurz, sie flogen nach links, sie sausten nach rechts, sie
rasten nach der Plaza de Olivar und um diesen Platz he-
rum, wie dereinst die römischen Rennwagen auf der Fahr-
— 151 —
bahn des Kolosseums, und doch war hier kein Wettbewerb
zu schlagen, kein Preis einzuheimsen!
Vergebens versuchten auf diesem Platz drei Polizisten,
sich auf die Maultiere zu werfen, die dadurch nur noch ra-
sender ausgriffen. Vergebens suchten sie einer unvermeid-
lichen Katastrophe zu steuern . . . ihre Aufopferung war
fruchtlos. Der eine wurde umgestoßen und stand verletzt
nur mühsam wieder auf, der andere mußte die Zügel fah-
renlassen. Kurz, die Galera stürmte nur mit immer zuneh-
mender Schnelligkeit weiter, als wäre sie den Gesetzen des
freien Falls Untertan.
Man hätte wenigstens glauben können, daß diese sinn-
lose Jagd ein – freilich unglückseliges – Ende nehmen
müßte, als das Gespann der Calle de Olivar zusauste.
Diese sehr abschüssige Straße wird nämlich von einer
Treppe mit 15 Stufen unterbrochen, und wenn die Straße
überhaupt kaum befahrbar ist, so ist sie es an dieser Stelle
erst recht nicht.
Die Rufe verdoppelten sich, von allen Seiten bellten die
Hunde. Die Maultiere kümmerten sich darum ebensowenig
wie um die paar Treppenstufen. Jetzt polterten die Räder
schon auf der Treppe und stießen den Wagenkasten auf und
ab, als müsse er nun aus den Fugen gehen und das ganze
Gefährt in Stücke zerfallen . . .
Doch nein, nichts von alledem! Das Vordergestell blieb
trotz der heftigsten Stöße mit dem Hintergestell verbunden,
der Wagenkasten hielt zusammen, die Gabeldeichseln wi-
derstanden und auch die beiden Hände Clovis Dardentors
— 152 —
— 153 —
ließen bei dem entsetzlichen Hinunterpurzeln die Zügel
nicht los.
Hinter der Galera her lief eine immer anwachsende Men-
schenmenge, unter der Marcel Lornans, Jean Taconnat, der
Cicerone und der Kutscher sich noch nicht befanden.
Nach der Calle de Olivar ging die Jagd weiter durch die
Calle de San Miguel, hierauf über die Plaza de Abastos, wo
eines der Maultiere zweimal stürzte, doch unverletzt sofort
wieder aufsprang, nachher durch die Calle de la Plateria
und endlich über die Plaza de Santa Eulalia.
»Offenbar«, dachte Clovis Dardentor, »wird die Galera
so weit gehen, bis es ihr an Erdboden unter den Rädern
fehlt, und das kann am letzten Ende doch nur in der Bai
von Palma sein!«
Auf dem Platz der heiligen Eulalia erhebt sich die die-
ser Märtyrerin geweihte Kirche, die bei den Baleariern die
höchste Verehrung genießt. Vor langer, langer Zeit diente
genannte Kirche als Freistatt, und Verbrecher, denen es ge-
lang, dahin zu flüchten, waren damit den Händen der Poli-
zei entzogen.
Diesmal war es freilich kein Verbrecher, den ein glück-
licher Stern
Weitere Kostenlose Bücher