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Club Kalaschnikow

Club Kalaschnikow

Titel: Club Kalaschnikow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Augen. Es kam ihr vor, als schwebe dort, hinter der Scheibe, in der schneeerfüllten Finsternis ihre schwerelose, glückliche, wunderschöne Doppelgängerin.
    Nebenan läuteten im Fernseher die Glocken der Kreml-Turmuhr. Olga hatte niemanden, mit dem sie hätte anstoßen können. Sie hatte auch keinen Sekt zum Anstoßen. Im Haus gegenüber waren die Fenster hell erleuchtet, eine lustige Gesellschaft kam auf den Hof gerannt, Böller krachten, man hörte betrunkenes Gelächter und quiekende Frauenstimmen. Alle waren in ausgelassener Stimmung, in Silvesterlaune.
    Olga tat sich selber leid.
    »Ich bin verhext worden«, klagte sie ihrer schwankenden Doppelgängerin. »Woher kommt diese Melancholie? Wieso fühle ich mich so schlecht? Das ganze Leben ist mir verhaßt.«
    Ihre lebhafte, kranke Phantasie, angefacht durch die Erschöpfung, Einsamkeit und nervliche Anspannung malte ihr gruselige Bilder. Zottelige Weiber mit verkrümmten Fingern zerstießen in Mörsern getrocknete Kaulquappen und Schaben, fädelten die Zähne von dreizehn schwarzenKatzen auf einen Faden, formten aus Wachs ein Figürchen, das Olga darstellte, und durchbohrten die Brust des Figürchens mit glühenden Nadeln, links, wo das Herz sitzt.
    Wenn man auf einem Klappbett in der Küche schlafen, die endlosen Launen einer unvernünftigen alten Frau erfüllen, jede Kopeke zählen und das neue Jahr ohne Tanne und ohne Sekt feiern muß, allein mit dem eigenen Spiegelbild im schmutzigen Küchenfenster, dann ist es kein Wunder, daß man in trüber Stimmung ist. Erst recht, wenn man dreiundzwanzig Jahre, gesund, hübsch und noch ungeküßt ist. Zwar folgen dir auf der Straße, in der Uni, in der Bibliothek gierige Männerblicke, du aber hast Angst, ohne zu wissen wovor, und fliehst vor diesen Blicken wie vor der Pest.
    »Du mußt wählen«, hatte ihr einmal der alte, müde Diakon in der Himmelfahrtskirche gesagt, »wenn du ein rechtgläubiger Mensch bist, dann vertreibe die unreinen Kräfte mit Gebet und Kreuzzeichen. Du bist doch ein kluges Mädchen, aber du benimmst dich wie ein abergläubisches altes Weib, das glaubt, die Nachbarin habe ihr in die Suppe gespuckt und davon hätte sie Hämorrhoiden bekommen. Ich weiß, du hast es sehr schwer mit deiner Oma. Aber alles geht vorbei, du bist noch so jung, halt durch, es geht nicht anders. Jeder hat sein Kreuz zu tragen.«
    »Sie verstehen mich nicht«, sagte Olga, »ich bin verhext worden, auf mir liegt ein böser Zauber, da hilft kein Gebet.«
    »Du solltest heiraten«, seufzte der Diakon und blickte Olga mitleidig an. »Wenn du erst mal Kinder hast, verschwinden all diese Flausen von selbst aus deinem Kopf.«
    »Heiraten?! Kinder?! Das ist zu einfach! Das sind niedere Instinkte, eines geistigen Wesens unwürdig! Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Vater!« entrüstete sich Olga.
    Niemand verstand sie. Und sie verstand sich selbst nicht.
     
    »Olga! Ich muß mal groß!«
    Die Oma hämmerte mit der Faust an die Wand. Olgarannte ins Wohnzimmer. Man hätte denken können, die alte Frau käme allein nicht mehr zurecht, würde es nicht bis zur Toilette schaffen. Aber besser war es, überhaupt nicht zu denken, sie einfach unterzuhaken, durch den Flur zu führen, vor der offenen Tür stehenzubleiben und zu warten, die Nase in den Ärmel der verwaschenen Bluse gesteckt.
    Die Oma pflegte immer genau zu kommentieren, was gerade in ihrem Organismus vor sich ging. Nicht nur Olga, sondern auch alle alten Frauen auf dem Hof, auch der Arzt, der die Oma zweimal im Monat besuchte, und der junge Bursche vom Sozialamt, der die Rente ins Haus brachte – alle sollten genauestens wissen, wie Oma Iwettas Darm funktionierte.
    »Warum drehst du dich weg? Ich merke schon die ganze Zeit, daß du dich vor mir ekelst. Vergiß nicht, ich war es, die dich aufgezogen hat, nächtelang habe ich nicht geschlafen. Wieso hast du gestern Reis gekocht? Von Reis bekommt man Verstopfung. Steh nicht herum wie ein Hornochse, hilf mir hoch.«
    Die Psychiaterin hatte ihr erklärt, das völlige Fehlen elementarer Schamgefühle sei ein charakteristischer Zug für diese Krankheit.
    »Du bist doch kein Krüppel, du kannst das doch allein!« rutschte es Olga heraus, und sofort tadelte sie sich: Jetzt wird es noch schlimmer.
    »Ich werde einen Brief an die Behörden schreiben, es gibt eine Kommission, die überprüft, wie alte Menschen von ihren Verwandten behandelt werden.«
    Und so ging es ununterbrochen weiter. Olga hörte gar nicht hin, sie bewegte sich

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